Form und Funktion

– Gedanken zum Ableben von Swami’s physischer Form –

 „Beschränkt das Göttliche nicht auf einen bestimmten Namen oder eine bestimmte Form. Wahrheit ist Wahrheit. Das ist die einzige Wahrheit. Sie hat keine Form.“

Sathya Sai Baba hat uns in seiner physischen Form verlassen. Wir trauern um den Verlust seiner Person und seines segensreichen Wirkens.

 Dieser Verlust hat mich – wie viele andere wohl auch – auf dem falschen Fuß erwischt. Habe ich doch fest auf Swami’s Ankündigungen vertraut, uns seine körperliche Anwesenheit bis zum 95. Lebensjahr zu erhalten. Rechenübungen zur Zählung von Sonnen- oder Mondjahren hin oder her, muss ich mich nun trotz und auch mit der Trauer über das Ende dieser Avatarschaft neu sortieren.

 Geburt und Tod betreffen nur den Körper, nicht aber den Atman.

Was ist durch diesen Tod unwiderruflich verloren?

 Sicherlich, sein äußeres Wirken für die sozialen Sai-Einrichtungen muss nun in zur Gänze in andere Hände übergehen. Und er wird uns als körperlicher Spiegel unserer Hingabe und als Adressat unserer Wünsche fehlen.

 Was bleibt dennoch?

 „Beschränkt eure Liebe nicht auf das Besondere, das immer dem Wandel unterliegt.

Es bleibt zwar nicht die Form selbst. Wohl aber bleibt uns die Vorstellung von der Form und die Erinnerung an diese Form.

 Worauf beruhen diese Vorstellungen?

Sie stützen sich auf Wahrnehmung und Erinnerung. Auf die Erinnerung an vorangegangene sinnliche Wahrnehmungen. Wahrnehmungen, wie das Sehen der Form Swami’s im Darshan, das Hören seiner Worte in den Ansprachen und den Duft und den Geschmack seiner göttlichen Gaben, wie bei der Materialisierung von Vibhuti.

 Und worauf beruhen diese Erinnerungen?

 Sie sind das Ergebnis von „Vāsanās“, geistigen Spuren, die in unserem Bewusstsein als Folge vorangegangener Sinneserfahrungen und daraus abgeleiteter Handlungen gespeichert wurden. Prägungen, die uns aber auch aufgrund unserer Erfahrungen mit der körperlichen Form Swami’s den Indweller, den inneren Beweger unseres Handelns, und die Wahrheit der Einheit erfahrbar machen können!

Aus einer Erfahrung der Schöpfung entsteht das Verständnis des höchsten Selbst. Aus dem höchsten Selbst, geht die Verwirklichung der höchsten Wahrheit hervor.

 Aber sowohl die direkten sinnlichen Wahrnehmungen der körperlichen Erscheinung des Avatars und seiner Handlungen wie auch die Erinnerung daran bleiben letztlich getäuschte Wahrnehmung. Eben, weil sie – auch in der Erinnerung – Wahrnehmungen über den Weg der körperlichen Sinnesorgane  waren, nützlich  zwar zur Vorbereitung auf das wahre Sehen, die innere Schau des wahren Selbst.

 Das ist es, was zum Beispiel für buddhistische Yogis die Verwirklichung einer Gottheit bedeutet. Sobald für sie die richtige Zeit gekommen ist und die spirituellen Voraussetzungen erfüllt sind, schöpfen sie aus der direkten Offenbarung der göttlichen Wahrheit, aus der inneren Kraft, die für sie zu einer freudvollen und gültigen Erfahrung wird, vergleichbar mit dem vedischen Begriff der „Ānandamayakosha“, der feinsten für uns erlebbaren Bewusstseinsschicht.

 So, wie der buddhistische Yogi in einspitziger Konzentration auf das grenzenlose Mitgefühl oder auf die Vervollkommnung des Weisheitsaspektes eines Buddhas meditiert und dessen  essentielle Qualitäten verwirklicht, das heißt in sich zur Wirkung bringt, so können wir alle den uns zutiefst innewohnenden Atman, den Indweller – wie Swami ihn genannt hat –  zu einer wahren inneren Erfahrung werden lassen, wenn und sobald die Zeit und die förderlichen Umstände hierfür gekommen sein werden. Eine Einheit, wie sie uns auch in den vedischen Schriften als „tat tvam asi ? das bist du“, als unser wahres Selbst dargelegt wird.

 Dennoch scheinen wir vor einer solchen direkten Verwirklichung der letztendlichen Wahrheit die helfende Funktion der körperlichen Erscheinung des Avatars zu benötigen, die uns auf den Weg führt und das Sehnen nach wahrer Erfüllung stützt.

 Wir müssen uns nach diesem Prinzip sehnen, das weder geboren wird noch stirbt.

 Es genügt aber nicht, die uns von Swami geschenkten Werkzeuge zum Durchbrechen von Māyā, des Schleiers der Täuschungen, der wie ein zäher Nebel über allen sinnlichen Wahrnehmungen liegt, auf dem Altar unseres Herzens ehrfurchtsvoll zu bewahren.

Nein, jetzt ist die Zeit, in der wir uns – notwendigerweise frei von starkem Anhaften an die physische Form Swami’s – um das Erkennen und um die Verwirklichung der göttlichen Einheit bemühen können, so gut es uns dank göttlicher Gnade gelingen mag.

 Und wenn uns das – ohne das Sicherungsnetz des körperlich anwesenden Avatars – jetzt und hier noch nicht gelingen mag, dürfen wir auf die Wiederkehr der göttlichen Form als Prema Sai hoffen und geduldig auf unsere erneute Übungschance warten. Schon „bald“ könnte dies geschehen. Denn: Soon the third incarnation is to come, heißt es in Swami’s Ansprache vom 6. März 2008 in der Original-Übersetzung von Anil Kumar. Oder schon sehr bald, wie Sami es in einem Interview mit einer kalifornischen Gruppe angekündigt haben soll?

 Das ist unsere erneute und außergewöhnliche Chance, die letztendlich einzige und einzigartige Funktion und Aufgabe des kommenden Purna-Avatars zu verstehen: uns über die sinnlich/körperlichen Wahrnehmungen des Avatars hinaus zum Verständnis der inneren Kraft, zum Verstehen der Wahrheit, zu entwickeln.

 Diese Verheißung und das Vertrauen darauf mögen uns trösten und uns Halt geben, die Trauer um den Verlust der physischen Form Swamis zu bewältigen, um zu uns selbst und zur Wahrnehmung der uns innewohnenden Wahrheit zu erwachen.

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Das Zitat „Beschränkt das Göttliche…“ und nachfolgende Zitate sind einer Ansprache von Sathya Sai Baba vom 28. Oktober 2003 entnommen.

 

© Klaus Kück Heidelberg, veröffentlicht in: Sathya Sai Briefe, Ausgabe 117, Sommer 2011, S. 70ff.