„Das bist du!“

„Was immer ihr tut, betrachtet es als Gottes Werk. Alles geschieht entsprechend dem Willen Gottes. Lebt nicht in der Illusion, euer Wille allein könne die Dinge bewegen. Begreift, dass alles gemäß dem göttlichen Willen geschieht.“

Sathya Sai Baba, Ansprache vom 22. Juli 2008

„Das bist du!“

 „Du bist nicht eine Person, sondern drei -die, für die du dich hältst, die, für die andere dich halten, und die, die du wirklich bist.“[1],

Das, was Sathya Sai Baba zur Seinsweise der Person schon mehrfach in seinen Ansprachen erklärt hat, hört sich zunächst ganz einfach an und stimmt uns zuversichtlich: Vielfältig ist unser Sein, so, wie wir uns sehen, so, wie andere meinen, uns zu verstehen, und so, wie wir tatsächlich sind. Wäre da nicht im letzten Satzteil das Wörtchen »wirklich«, das die ersten beiden Sichtweisen auf die Person als falsche Konzepte und Vorstellungen entlarvt.

 1.     Getäuschte Selbstwahrnehmung: die Person, für die ich mich halte.

 Wenn ich mich frage: „Wer ich bin?“, suche ich nach gültigen Antworten, die mich als existentes Subjekt definieren. Zweifellos bin ich – „Ich denke, also bin ich[2]und nehme als existentes Individuum – ich, nicht irgendwer – an Bewusstseinsprozessen, Wahrnehmungen und Erfahrungen teil.

 Nur, was bin ich, oder genauer gefragt: was glaube ich zu sein? Ist die Sichtweise, wie ich mich als Wahrnehmer in diesen Prozessen erfahre, korrekt? Üblicherweise sehen wir uns als selbstmächtige, autark handelnde Person, die als Besitzer von Körper und Geist diese physischen und psychischen Instrumente einsetzt, um Willensprozesse einzuleiten und auszuführen. Kann sich dieses »Ich« aber – innerhalb seiner Begrenzungen durch genetische und soziale Prägungen – durch willentliches und eigenverantwortliches Bemühen für oder gegen eine Handlungsalternative entscheiden?

 Die Frage nach dem autarken Wollen führt zu einer weiteren Überlegung: Um eigenmächtig entscheiden zu können, müsste dieses »Ich« aus sich heraus existieren und mit den geeigneten Mitteln einer logischen Untersuchung auch aufzuspüren sein.

 Seinsfragen wie diese haben die Wegbereiter der philosophischen Schulen des tibetischen Mahāyāna-Buddhismus mit Akribie und logischer Konsequenz erforscht und herausgefunden, wie die Person mitsamt Körper und Geist existiert und funktioniert. Im Ergebnis ihrer Untersuchungen konnten sie nur zu dem logischen Schluss kommen, dass uns – als Person – keine inhärente Existenz, kein Bestehen aus uns selbst heraus, zugeschrieben werden kann. Die Person ist »leer« von Eigenexistenz, sie kann nur über die ihr zugrunde liegenden Aggregate, über den Körper und den Geist erkannt werden. Sie ist demnach nicht der Besitzer der sie konstituierenden Aggregate, sondern als »Ich-Vorstellung«, Aham vritti, das Ergebnis dieser Aggregate.

 Folgerichtig spielt in den buddhistischen Lehren der Prozess der Wahrnehmung der Person eine wichtige Rolle, wie sie in richtiger Weise auf der Grundlage von Körper und Geist erfahren werden sollte: Während das letztliche, wahre Sein der Person die Leerheit von inhärenter Existenz ist, manifestiert sich bedingtes Erscheinen auf der Grundlage von Bewusstsein, das als »klar« und »erkennend« beschrieben wird; »klar«, weil es frei und unbehindert von Form und Gestalt ist, und »erkennend«, weil es als wahrnehmendes Instrument dennoch funktionsfähig ist.

 Wenn es die Person als eigenmächtigen Entscheidungsträger demnach nicht geben sollte, sie aber dennoch wirkungsvoll auf ihren Wahrnehmungsgrundlagen erfahren wird, folgt zwangsläufig die Anschlussfrage nach einem »Beweger«, nach dem, was die Person belebt und bewegt, um in der Auseinandersetzung mit sich und der Welt zu funktionieren.

 Eine extreme Antwort auf die Frage nach einem solchen »Beweger« kommt von zeitgenössischen Neurobiologen, die diese Frage mit einer radikalen Sichtweise beantworten: Sie halten das Gehirn für „ein komplexes, sich selbst organisierendes System“, das darüber hinaus keinen „autonomen, freien und daher vollverantwortlichen Beweger und Steuerer“ benötigt. Sie nehmen an, dass alles Wissen und Denken in der neuronalen Architektur des Gehirns angelegt ist, dass sich die genetisch geprägte Architektur des Gehirns durch nachgeburtliche Einflüsse und Lernprozesse eigenständig modifiziert, sich so den evolutionären Erfordernissen anpasst und die in der Peron ablaufenden lebenserhaltenden Vorgänge steuert:

 Da alle unsere kognitiven Fähigkeiten unserem Gehirn entspringen, muss alles das, was wir wissen und uns vorstellen können, bestimmt sein durch die Art und Weise, wie unser Gehirn organisiert ist und wie es funktioniert.“[3]

 Trotz des wissenschaftlich interessanten Forschungsansatzes scheint das eine abenteuerliche Sichtweise zu sein, die die Steuerung unseres Seins und Bewusstseins auf eigenständige Gehirnaktivitäten reduzieren möchte, um dann zu schließen, dass das, „was wir als ‚Ich‘ oder als ‚Selbst‘ erleben? ‚in Wirklichkeit‘ das Zusammenspiel bestimmter Strukturen bzw. die Interaktion verschiedener Gehirnareale“ sei.[4] Ein solcher Schluss mutet so an, als ob man in den Elementarteilen einer Geige nach der Genialität einer Musikkomposition suchen wollte, wobei zweifellos die Geige als Instrument benötigt wird, um die Schöpfung einer solchen Musik zum Klingen zu bringen.

In allen christlich geprägten Vorstellungen wird ein Urgrund des Seins in Form des Schöpfergottes nicht infrage gestellt. Allerdings dominieren theistische Gottes-Interpretationen mit einem Gott, der als Gipfel der Schöpfung über allem thront und von außen das Schicksal der Welt bestimmt: „Unser Vater im Himmel.“ Und als Mittler zwischen diesem und einem vergänglichen Körper-Geist-Organismus dient eine von Gott getrennte, die Lebenszyklen überspannende »Seele«, die erst mit ihrer Vollendung vor Gott ihre Aufgabe erfüllt.[5]

 Diese vorgestellte Trennung installiert eine tiefe Kluft zwischen Gott und seinen Geschöpfen und behindert nachhaltig das Erwachen zum wahren menschlichen Wesen, zur erlösenden Erkenntnis der Einheit aller Menschen mit und in Gott., wie sie sich im Johannes-Evangelium offenbart:

„Und ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, dass sie eins seien, gleichwie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, auf dass sie vollkommen eins seien.“[6]

Die meisten hinduistischen Schöpfungsvorstelllungen sind von einer Vielfalt göttlicher Aspekte durchdrungen, mit Brahma als Schöpfungsgott und den Menschen als »Wanderern im Kreislauf der Wiedergeburten«, die auf der karmischen Grundlage heilsamer Handlungen auf ihre Vereinigung mit Gott warten müssen. Erst die tiefgründigen Lehren vedischer Meister zeigen ein richtungweisendes und in sich schlüssiges Konzept zum Verhältnis zwischen dem göttlichen Urgrund und dem Menschen als Objekt dieser göttlichen Kraft. Hier wird einsehbar und annehmbar, dass die Person – und zusammen mit ihr eine traumähnliche Erscheinungswelt – eine Widerspiegelung des Göttlichen in einem universellen Schauspiel ist, in dem sich das Göttliche aus seinem Ruhezustand in die Bewegung ausdehnt, in dieser Ausdehnung alles durchdringt und damit alles Geschehen in dieses göttliche Bewusstsein einschließt. Die meisten hinduistischen Schöpfungsvorstelllungen sind von einer Vielfalt göttlicher Aspekte durchdrungen, mit Brahma als Schöpfungsgott und den Menschen als »Wanderern im Kreislauf der Wiedergeburten«, die auf der karmischen Grundlage heilsamer Handlungen auf ihre Vereinigung mit Gott warten müssen. Erst die tiefgründigen Lehren vedischer Meister zeigen ein richtungweisendes und in sich schlüssiges Konzept zum Verhältnis zwischen dem göttlichen Urgrund und dem Menschen als Objekt dieser göttlichen Kraft. Hier wird einsehbar und annehmbar, dass die Person – und zusammen mit ihr eine traumähnliche Erscheinungswelt – eine Widerspiegelung des Göttlichen in einem universellen Schauspiel ist, in dem sich das Göttliche aus seinem Ruhezustand in die Bewegung ausdehnt, in dieser Ausdehnung alles durchdringt und damit alles Geschehen in dieses göttliche Bewusstsein einschließt.

 2.   Getäuschte Objektwahrnehmung: die Person, für die andere dich halten.

 „Es gibt in dieser Welt nicht so etwas wie eine andere Person oder ein anderes Objekt. Eines allein existiert. Was andere glauben, ist alles Einbildung“[7]

 Warum sollte auch die Art und Weise, wie andere Personen uns wahrnehmen, getäuscht sein? Die Wahrnehmung meiner Person durch andere ist ebenso wie meine Wahrnehmung der anderen das Verarbeiten eines sinnlichen Impulses, der zwar von einer scheinbar äußeren Erfassungsgrundlage – der anderen Person – ausgeht, der sich aber als subjektive Sinneswahrnehmung unmittelbar nach seiner Wahrnehmung in  eine Vorstellung über das wahrgenommene Objekt, hier der wahrgenommenen Person, wandelt. Insofern ist das, was wir »wahr«-nehmen, das, was wir für wahr halten, in vielfacher Weise ein getäuschtes Abbild unserer vorgeprägten Konzepte.[8]

Dies mag an folgendem Beispiel deutlicher werden:

 In einer filmischen Parabel über Wirklichkeiten und Traumwelten erzählt ein Mönch einer mitreisenden Gruppe von Pilgern die Geschichte eines jungen, sich nach Lebensabenteuern sehnenden Bauernsohnes, der in der Mittagshitze der Feldarbeit einschläft und träumt, einen Menschen aus Leidenschaft zu einer Frau getötet zu haben. [9]

 – Der »Mörder« erwacht aus dem Albtraum einer leidenschaftlichen Beziehung und aus der vermeintlichen Last seiner Schuld des Tötens und wird, wenn auch erleichtert, in die langweilige »Wirklichkeit« seines Alltagslebens zurückgeholt.

 – Die Mitreisenden, eben noch gefesselt von der Dramatik der Erzählung des Mönches, werden am Ende in die »Wirklichkeit« ihres Reisegeschehens zurückgeholt.

 – Wir, die Fernsehzuschauer, die wir bis dahin noch erfüllt waren von der Poesie dieses Filmes, werden am Ende in die »Wirklichkeiten« unseres Lebensalltags zurückgeholt.

 Die sich in diesem Film überlagernden Traum- und Scheinwelten des »Mörders«, der Reisenden und der Fernsehzuschauer werden alsbald – mit einiger Verzögerung zwar, aber immerhin doch – als Fiktion auf der Grundlage von Sinneseindrücken durchschaut. Dass aber auch die »Realitäten« unserer Alltagswelt getäuschte Wahrnehmung sein könnten, bleibt für die meisten von uns unfassbar. Nur der spirituell Vorbereitete erkennt auch die täuschende Ebene dessen, was er Leben nennt, eines Lebens, das in traumähnlicher Form als Teil eines umfassenden kosmischen Spieles des göttlichen Bewusstseins abläuft und den Gesetzen des göttlichen Willens folgt.

 Er kann nachvollziehen, wie aus einem ersten ungetäuschten Augenblick der Wahrnehmung im Bruchteil einer Sekunde eine Vorstellung wird, die der Geist nicht mehr direkt, sondern nur mit Hilfe eines geistigen Bildes, eines »Generic image«, aufnimmt, und die geistig/energetische Schwingung des Wahrgenommenen mit den Konzepten und den Wertungen aus vorangegangenen Wahrnehmungen gleicher Art verbindet. Darin liegt das allesdurchdringende Leiden einer gewöhnlichen Wahrnehmung, die uns – im Gegensatz zur direkten Wahrnehmung eines fortgeschritten Yogi – die vollkommene und ungetäuschte Erkenntnis, Prāmana, die Erfahrung der Identität von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem vorenthält.

 In Ermangelung einer solchen vollkommenen Sichtweise, Samyak drishti, bleiben vorerst alle Objektwahrnehmungen ? also auch die Wahrnehmung einer Person durch eine andere Person ? täuschende Denkgewohnheiten auf der Grundlage von Denkspuren in subtilsten Schichten des Bewusstseins.

 3.   Die vollkommene Sichtweise: die Person, die du wirklich bist!

 „Statt zu versuchen, die Schöpfung (srishti) zu ändern, sollte der Mensch seine Sichtweise (drishti) ändern. Nur wenn wir unsere Sichtweise ändern, können wir die Wirklichkeit sehen.“[10]

 Die hier angesprochene vollkommene Sichtweise, Samyak drishti, ist eine Weisheitserkenntnis, die nur mit dem »Auge der Weisheit« und erst dann, wenn die notwendigen Voraussetzungen durch göttlichen Willen erfüllt sein werden, erfahrbar wird. In Ermangelung einer noch ausstehenden direkten, befreienden Schau kann sie uns »vorab«, also hier und jetzt, durch spirituelle Belehrung und Inspiration eine Ahnung durch Sinneswahrnehmung – Sehen, Hören, Unterscheiden durch korrektes Denken – vermitteln und uns für diesen Weg empfänglich machen.

 Eine Brücke auf dem Weg zur richtigen Sichtweise der Person bietet die Philosophie Platons:

 Die Seele sei „als Bewusstseins-Widerschein der universellen Seele“, des „Einen-Guten„‚, des Absoluten oder – in vedischer Terminologie ? des Ātman zu verstehen. Sie werde durch den »Abstieg« vom universellen Sein in das physisch-dichte Körperliche quasi »gefangen gesetzt«. Durch das Übel der Unwissenheit widerspreche diese Seele zwar ihrer eigenen Natur und verliere „dadurch ihre noetische Herkunft aus dem Blick.“ Das Festhalten „an den relativen, vergänglichen und irdischen Dingen und die Identifizierung mit ihnen verursacht Verwirrung, und das Göttliche gerät in Vergessenheit.“ Durch ihre Teilhabe an der göttlichen Wahrheit besitze sie jedoch die Möglichkeit „der Wiedererweckung zu dem, was wir in Wirklichkeit sind.“ [11]

 Gibt es sie also doch, die Seele als Teil der Person? Obwohl sie in der buddhistischen Philosophie als leer von Eigenexistenz ausgeschlossen wird, weil sie in den konstituierenden Aggregaten der Person nicht zu finden ist, weder im Körper noch im Geist? Und, obwohl sie als Begrenzung des Göttlichen auf die Person und in der Person nicht in frage kommen kann, da das Göttliche Eine unteilbar und nicht auf die Person begrenzbar ist?

 „Der Atman  ist die körperlose Wirklichkeit, das Prinzip, das im Körper wirksam, aber nicht Teil des Körpers ist.“[12]

 Die Vorstellung einer »Seele« als einem zur Person gehörigen Aspekt des Göttlichen bleibt dennoch ein sinnvoller Zwischenschritt von unseren dualen Konzepten zur nicht-dualen Sicht des Advaita. Sie ist als Vishishtadvaita, einem bedingten Akzeptieren von Advaita, hilfreich, den spirituellen Weg von einer vermeintlichen Trennung von Person und Gott zur Wiedervereinigung mit dem Göttlichen Einen zu ebnen und die wahre Sicht auf die untrennbare Einheit von Gott und Mensch vorzubereiten.

 Eingängiger wird das Bild von einer Seele, wenn  wir sie als »Gedanke Gottes« verstehen könnten, als göttlichen Willen, der sich in der Person ausdrücken will, der als richtende Kraft in der Person wirkt, sich in den subtilsten Schichten des Bewusstseins niederschlägt und dort als spirituell/evolutionäre Qualität existenzübergreifend wirksam bleibt.

 Wir leben in der zeitweiligen und abgegrenzten Gestalt eben dieser Person in eben dieser Zeit. Auf der Grundlage von Körper und Geist erleben wir die Welt als subjektive Wahrnehmung mittels der im Geist angelegten Kapazitäten des Geistes, die ihn befähigen, zu denken, zu empfinden, zu unterscheiden und sich zu erinnern.

 Zugleich erleben wir uns, den »Wahrnehmer« selbst, als ein vermeintlich autarkes Zentrum dieser Person. Dabei vergessen wir unsere ursprüngliche Aufgabe, als göttliches Abbild der Fülle des latenten Seins in dieser ganz spezifischen Lebensaufgabe Ausdruck zu verleihen, als Instrument des Göttlichen, nicht aber als eigenmächtig handelnde Entität!

Wie konnte es zu diesem Missverständnis kommen? Warum hängen wir so unverbesserlich am falschen Verständnis von uns als Person? Warum erkennen wir lange Zeit nicht die letztendliche Wahrheit unserer Existenz, unserer unverbrüchlichen Einheit mit Gott?

 Howard Murphet vergleicht die Suche nach dem wahren Selbst mit einem Prinzen, der als Baby von Räubern entführt wurde:

 „Er wuchs in dem Glauben heran, er sei einer der Räuber. Aber wenn er herausfindet und ihm jenseits aller Zweifel klar wird, dass er ein Prinz mit einem wunderbaren Erbe ist, wird sich sein Leben und seine Einstellung völlig ändern.[13]

 Wie konnte es überhaupt zu dem sich selbst missverstehenden »Ego« kommen?

 Aus Gründen, die uns verborgen sind, »beschließt« das Göttliche, das in seiner essenziellen Wahrheit wahres, unveränderliches und eigenschaftsloses Sein ist, zur Welt zu kommen, um auf dieser Erfahrungsebene die ihm im Ruhezustand nicht erfahrbare Erscheinungsbreite seiner selbst zu erleben.

 „Das Eine beschloss, viele zu werden“, offenbart uns Sai Baba. [14]

 Samkalpa, der freie und kausal nicht erklärbare Ratschluss Gottes, sich selbst in der Dualität in allen denkbaren Ausprägungen erleben zu wollen, verdichtet sich in einem physisch/psychischen »Wahrnehmer«, um in ihm und durch ihn einen bestimmten Aspekt der Fülle seines Potentials auszudrücken. Die »Krux« dabei ist nur, dass dieser »Wahrnehmer« – bedingt durch seine Funktionsweise – eine »Ich-Illusion« hervorbringt und sich als handelndes Subjekt missversteht. Er verkennt seinen instrumentalen Charakter und vergisst, dass er als Objekt des göttlichen Willens zwar notwendig, aber nicht autark handlungsfähig ist.

 Im Übergang vom Sein – sat – zum bewussten Sein – cit – werden wir hineingeboren in einen Erfahrungsraum »Welt« mit all seinen karmischen Verkettungen von Handlungen und Wirkungen und sind den dort wirksamen Naturgesetzen bis zum Verstehen unserer wahren Natur – ānanda – leidvoll ausgeliefert.

 Denn mit der Ausdehnung in die Dualität ist notwendigerweise das Aufscheinen aller Lebenspotentiale verbunden, somit auch die Polarität von »gut« und »böse«, ohne die ein Erleben der Welt schlichtweg unmöglich ist.

 „Gutes und Schlechtes existieren gemeinsam. Ihr könnt Gutes oder Schlechtes nicht unter Ausschluss des anderen finden.“[15]

 Erst wenn es uns vergönnt ist, die in uns angelegte göttliche Täuschung einer unterscheidenden, also dualen Wahrnehmung aufzugeben und diese uns von der vermeintlichen Lebensaufgabe einer aus uns heraus zu bewältigenden »Welt- und Ich-Verbesserung« erlöst, können wir mit Augustinus sagen:

 „Von jetzt an wünschte ich mir nicht mehr eine bessere Welt, denn ich bedachte sie jetzt in ihrer Gesamtheit, und mit einem gereiften Urteil erfasste ich, dass zwar die höheren Wesen (»das Gute«) besser sind als die niederen (»das Böse«), dass aber alle Wesen zusammen besser sind als die höheren allein.“ [16]

 Wie aber kann der Mensch diese Täuschung überwinden und zum richtigen Verständnis seines Seins und seiner Lebensaufgabe kommen?

 Wenn durch Buddhi, durch die „Kraft der höchsten Intuition“, die Göttliche Hypnose als Triebfeder der getäuschten Wahrnehmung schwindet und Wahrheit erkennbar wird, verändert sich auch das bisherige »hypnotisch gestörte« Handeln:

 „Wenn sich der Geist nach innen wendet, beginnt der Prozess des Verstehens. Wenn wir Gottes Willen akzeptieren, löst sich die Göttliche Hypnose.“ [17]

 Das göttliche Instrument verlässt die bisherige weltliche Ebene des bipolar orientierten Handelns und führt in zunehmendem Maße nur noch das aus, was Gott ist und letztlich in uns bewirken will: Wahrheit und Liebe.

 Dieser letzte und erlösende Schritt zur richtigen und befreienden Sicht auf die Wirklichkeit der Person vollzieht sich erst mit der Offenbarung der unverbrüchlichen Einheit von Gott und Mensch, einer Einheit, die nie durch einen scheinbaren »Abfall« der Seele von Gott getrennt war und deshalb auch nicht auf eine »Wiedererweckung« zum Göttlichen zu hoffen und zu warten hat!

 „Ihr seid alle Verkörperungen Gottes“, versichert uns Sai Baba, fügt aber bezogen auf uns als seine Verkörperungen hinzu, dass wir in umfänglicher Weise nach seinem göttlichen Willen funktionieren:

 „Was immer ihr tut, betrachtet es als Gottes Werk. Alles geschieht entsprechend dem Willen Gottes. Lebt nicht in der Illusion, euer Wille allein könne die Dinge bewegen. Begreift, dass alles gemäß dem göttlichen Willen geschieht.“[18]

 Sehen wir uns als Teil und Ausdrucksform des Göttlichen, ist diese unsere Göttlichkeit zutreffend; sehen wir uns als eigenmächtige, gottgleiche Individuen, ist sie irreführend. Unzweifelhaft sind wir insoweit untrennbare Bestandteile des Göttlichen, als sich diese Ausdehnung – als »Līlā«, als traumähnliches göttliches Spiel – im göttlichen Bewusstsein vollzieht. Insoweit sind wir als Aspekte des göttlichen Selbst Teil eben dieser Essenz und dennoch nicht mit dem Göttlichen identisch:

 „Deshalb ist es nicht angemessen zu sagen, Gott sei in euch. Ihr seid in Gott! Alle sind in Gott. Die Welt selbst ist eine Manifestation Gottes. Das ist die transzendentale, unveränderliche Wahrheit.“[19]

 Was lerne ich aus diesen Überlegungen zum wirklichen Sein der Person?

 ·     „Dein Wille geschehe“– Gott hat dieses »mein« Leben als Widerspiegelung Seines Wahren Seins in Gang gesetzt, lebt es nach Seiner göttlichen Vorsehung und beendet es mit der Erfüllung dieser Lebensaufgabe. »Mein« Spiel ist immer Sein Spiel, die Wahrnehmung der weltlichen Täuschungen ebenso wie die Gnade des Verstehens der Wahrheit, wann immer sie dem »Begnadeten« zuteil wird.

 ·      „Verstehen ist alles“ – Das Leben in dieser Welt mit ihren sinnlichen Erscheinungen hat keinen Sinn an sich und für sich, außer dem einen, zu verstehen, was wahr ist und was nicht wahr ist: „Der Sucher versteht, dass Gott der Sucher ist.“[20]

 ·       „Ich bin ICH“ ? Wenn die Zeit reif ist muß mein egozentriertes Selbstverständnis lernen zu verstehen, dass es in seiner bisher angenommenen Bestehensweise als handelnder Einheit zurücktreten muss, um als Instrument des göttlichen Willens – weiterhin und notwendigerweise – „der Ersten Wirklichkeit im Leben Platz zu schaffen – um Gott zur Welt kommen zu lassen.“[21]

© Klaus Kück Heidelberg 2009, veröffentlicht in: Sathya Sai Briefe, Ausgabe 110, Herbst 2009, S. 28ff.


[1] Sathya Sai Baba, Weihnachtsansprache vom 25. Dezember 2007.

[2]„Cogito ergo sum.“, „Mögen alle meine Denkinhalte falsch sein, die Tatsache, dass ich, der da zweifelt, eben indem ich zweifle, denke, ist unzweifelbar gewiss.“, René Descartes, zitiert nach: Hauk, Lust an der Erkenntnis, Grundlagen der Philosophie, München 2003, S. 120f.

[3] Alle Zitate aus: Wolf Singer, Abschlussvortrag auf der »Mind and Life«-Konferenz, Washington 2005, zitiert aus: CHÖKOR, Ausgabe Nr. 44, Frankfurt Dezember 2007, S. 21ff.

[4] G. Roth und W. Singer, zitiert nach: Wilfried Härle, Der (un-)freie Wille aus reformatorischer und neurobiologischer Sicht, in: Menschsein und Beziehungen, Tübingen 2005, S. 292.

[5] Vergleiche Ratzinger, Einführung in das Christentum, München 2000, S. 335.

[6] Neues Testament, Joh., 10,30 und 17,22-23.

[7] Ansprachen Sathya Sai Babas vom 25. Dezember 2007 und vom 1.1.2008.

[8] Um die sich daraus ergebenden möglichen Missverständnisse zwischen getäuschter und vollkommener Wahrnehmung zu vermeiden, ist es sinnvoller, das, was wir umgangssprachlich »Wirklichkeit« nennen, als  »Wirksamkeit« zu bezeichnen, um es von einer Wirklichkeit im Sinne einer ewigen und unveränderlichen Wahrheit zu unterscheiden.

[9] „Von Reisenden und Magiern“, TV-Programm „arte“ vom 12. Dezember 2007.

[10] Sathya Sai Baba, Ansprache vom 23. November 2005.

[11] Vergleiche: „Die Seele besitzt die Wahrheit schon“,  Raphael, Initiation in die Philosophie Platons, Freiburg i.Br., S. 77ff.

[12] Vgl. Sathya Sai Baba, Upanishaden, S. 56f und Quellen der Weisheit, S. 45.

[13] Howard Murphet, Komm und sieh, Dietzenbach 1997, S.97.

[14] Sathya Sai Baba, Ansprache vom 25. Dezember 2007.

[15] Sathya Sai Baba, Ansprache vom 25. Dezember 2008.

[16] Augustinus, Bekenntnisse, Stuttgart 1989, S. 187.

[17]Ramesh S. Balsekar, zitiert nach Shirish S. Murthy, Vom Bewusstsein getroffen, Freiburg i.Br. 1998, S 31.

[18] Sathya Sai Baba, Ansprache vom 22. Juli 2008.

[19] Sathya Sai Baba, Ansprache vom 1.März 2002.

[20] Ramesh Balsekar, ebenda, S.31.

[21] Willigis Jäger, Die Welle ist das Meer, Freiburg i.Br. 2000, S.58.

Getäuschte Selbstwahrnehmung: die Person, für die ich mich halte.

Wenn ich mich frage: „Wer ich bin?“, suche ich nach gültigen Antworten, die mich als existentes Subjekt definieren. Zweifellos bin ich, „ich denke, also bin ich“, und nehme als existentes Individuum – ich, nicht irgendwer – an Bewusstseinsprozessen, Wahrnehmungen und Erfahrungen teil.

Nur, was bin ich, oder genauer gefragt: was glaube ich zu sein? Ist die Sichtweise, wie ich mich als Wahrnehmer in diesen Prozessen erfahre, korrekt? Üblicherweise sehen wir uns als selbstmächtige, autark handelnde Person, die als Besitzer von Körper und Geist diese physischen und psychischen Instrumente einsetzt, um Willensprozesse einzuleiten und auszuführen. Kann sich dieses „Ich“ aber, innerhalb seiner Begrenzungen durch genetische und soziale Prägungen, durch willentliches und eigenverantwortliches Bemühen für oder gegen eine Handlungsalternative entscheiden?

Die Frage nach dem autarken Wollen führt zu einer weiteren Überlegung: Um eigenmächtig entscheiden zu können, müsste dieses „Ich“ aus sich heraus existieren und mit den geeigneten Mitteln einer logischen Untersuchung auch aufzuspüren sein.

Seinsfragen wie diese haben die Wegbereiter der philosophischen Schulen des tibetischen Mahāyāna-Buddhismus mit Akribie und logischer Konsequenz erforscht und herausgefunden, wie die Person mitsamt Körper und Geist existiert und funktioniert. Im Ergebnis ihrer Untersuchungen konnten sie nur zu dem logischen Schluss kommen, dass uns – als Person – keine inhärente Existenz, kein Bestehen aus uns selbst heraus, zugeschrieben werden kann. Die Person ist „leer“ von Eigenexistenz, sie kann nur über die ihr zugrunde liegenden Aggregate, über den Körper und den Geist erkannt werden. Sie ist demnach nicht der Besitzer der sie konstituierenden Aggregate, sondern als „Ich-Vorstellung“, Aham vritti, das Ergebnis dieser Aggregate. ..

© Klaus Kück, Heidelberg, im  September  2009.
veröffentlicht in: Sathya Sai Briefe, Ausgabe 110, Herbst 2009.