Der Weite Weg vom „Ich“ zum „ICH“

Überarbeitete und ergänzte Fassung von:
Auf dem Weg zum inneren Frieden
– Manifest einer spirituellen Suche –

(Text, ohne Schaubilder und Anhang)
© Klaus Kück, Heidelberg 2010
Alle Rechte vorbehalten

Vorwort zur ersten Fassung
Als ich im Frühjahr 2005 wegen eines mir unerklärlichen Anstiegs des
Blutdrucks den Arzt aufsuchte und auf seine Frage nach der psychischen
Befindlichkeit erwähnte, dass ich den Kopf wohl zu voll gestopft hätte mit
spirituellen Büchern und Texten, war seine lakonische Antwort: „Dann
müssen Sie ein Buch schreiben.“

Einmal ausgesprochen, nahm der Gedanke Form an.
Zunächst musste herausgefunden werden, wer diese Texte für wen
schreibt – und für wen nicht. Wer ist der eigentliche, der innere Urheber
dieser Texte? Mit Staunen verfolgte ich, wie viele, wenn nicht alle
Inspirationen zu den Aussagen dieser Niederschrift »ihren Weg suchten«.
Manchmal sprudelten sie schneller als ich schreiben konnte aus mir
heraus. Zuweilen war es sogar schwierig, auseinander zu halten, was
geschrieben und was weggelassen werden sollte.

Auf die Frage, warum Bücher geschrieben, herausgegeben und gelesen
werden sollten, sagt Sathya Sai Baba:
„Bücher müssen enthüllen, inspirieren, unterrichten, informieren, führen und
leiten. Ja, aber was sollten sie enthüllen? Wen sollten sie inspirieren? Wohin
sollten sie uns führen? Diese Fragen sind zu beantworten, bevor wir ein Buch
als gut, die Mühe und die Kosten als lohnend und den Einsatz als gelungen
bezeichnen können.“

Jeder braucht »seine« Erfahrungen und somit »seine« Bücher zu »seiner«
Zeit. So wie ich seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten jeweils zur richtigen
Zeit auf all die Bücher gestoßen bin, die mir immer dann geholfen haben,
einen nächsten Schritt auf meinem Weg zu gehen, so könnten auch andere
mit eben diesen Texten einen Anstoß in Richtung auf das in ihnen
angelegte Ziel erfahren.

Für wen sind sie nicht so sehr geeignet? Zunächst einmal für alle, die
nicht oder noch nicht an Sinnerfahrungen zum Wesen der Welt
interessiert sind. Und das war ich selbst viele Jahre nicht. Auch die auf
eine Glaubensrichtung ausschließlich Festgelegten möchten sich
möglicherweise mit spirituell übergreifenden Themen nicht
auseinandersetzen, könnten sich wohl auch an manchen Aussagen stören.
Für die, die offen sind für den Gedanken der Einheit aller Religionen,
wird beim Lesen der Gedanke der Toleranz im Vordergrund stehen. Und
für diejenigen, die die Einheit der Religionen verinnerlicht haben und
leben können, werden auch die folgenden Aussagen Sathya Sai Babas
annehmbar sein:
„Alle Religionen sind Facetten der einen Wahrheit.
Nur das Eine ist; die Weisen umschreiben es als Vielfalt.“

Mein Weg zur ganzherzigen Annahme dieser Aussagen begann in
»spiritueller Vorzeit« mit einer mehr oder weniger oberflächlichen
christlichen Prägung, setzte sich Ende der Achtziger Jahre mit einer
Hinwendung zum Buddhismus fort, hier speziell zum tibetischen
Buddhismus, um schließlich bei den Meistern des Advaita-Vedanta, und
letztlich bei dem für mich größten Meister, bei Bhagavan Shri Sathya Sai
Baba, zu »landen«.

Und noch dies: Die hier niedergeschriebenen Einsichten und Ansichten
sind nur eine von vielen denkbaren Möglichkeiten, spirituelle
Erfahrungen auf dem jeweils persönlichen Weg zu machen, ohne zu
beabsichtigen, andere von einer Allgemeingültigkeit zu überzeugen.

Vorwort zur überarbeiteten und ergänzten zweiten Fassung
Zu glauben, mit der Veröffentlichung der Erstfassung 2007 einen
angemessenen Abschluss dieses Textes gefunden zu haben, war ein
Trugschluss meinerseits. Zum einen erwies sich der »Weg zum inneren
Frieden« als weiter als zunächst angenommen und war keineswegs zum
Abschluss gekommen. Zum anderen wollten ergänzende Gedanken und
Bilder eingefügt werden, um das Verständnis von »Gott, der Welt und der
Person« zu überdenken und präziser und verständlicher zu formulieren.
In einem weiteren Kapitel „Tauchstationen“ wurden zudem thematische
Vertiefungen bestimmter Aspekte eingefügt.
Heidelberg im Herbst 2010

Einleitung
„Durch welche Kraft der Liebe rotiert die Welt ohne Achse und Achslager,
Durch welche Kraft der Liebe bleiben die Sterne am Himmel,
Durch welche Kraft der Liebe zwängen sich die Ozeane in ihre Grenzen,
ohne die Erde zu überschwemmen,
Durch welche Kraft der Liebe bläst der Gott des Windes in alle Welten,
Diese mächtige Kraft der Liebe ist wahrlich die Atmische Kraft.
Diese Kraft der Liebe ist höchst wundervoll, einzigartig und allesdurchdringend.
Die gesamte Schöpfung ist von Liebe durchdrungen.“

Mit diesem Gedicht begann Bhagavan Shri Sathya Sai Baba, ein in Indien
bekannter und verehrter Avatar dieses Zeitalters, am Nachmittag des 25.
Oktober 2004 eine Ansprache, die in ihrer Form und in ihrer
umwerfenden Eindringlichkeit bisher einmalig ist.

Sathya Sai Baba, dessen Anhänger im Jahr 2005 den achtzigsten
Geburtstag ihres Meisters feierten, spricht schon seit 1940 regelmäßig zu
seinen Devotees. Er hat seit über sechzig Jahren in unzähligen Ansprachen
und in vielfältiger Form seine Lehren, insbesondere die der menschlichen
Werte Wahrheit, Rechtes Handeln, Liebe, Friede, Gewaltlosigkeit, und die zur
Einheit aller Religionen verkündet.

Was ist es denn nun, was mich beim Lesen dieser Botschaft geradezu
elektrisierte? Schon immer hat Sathya Sai Baba, sich den Bedürfnissen
seiner Zuhörer/Innen anpassend, über verschiedene Aspekte spiritueller
Wege gesprochen und mit stets wechselnden Schwerpunkten

Karma Yoga, den Weg des selbstlosen Handelns,
Bhakti Yoga, den Weg der Hingabe zu Gott, und
Jnāna Yoga, den Weg der Erkenntnis,

erklärt. Er führt auf den Weg des ethischen Handelns und zu innerem
Frieden und zur Harmonie mit anderen – „Help ever, hurt never“ -, zieht in
den Bann seiner gelebten Liebe, führt zum Erleben der Einheit mit Gott
– „Love is my form“ – und zeigt den Weg der Selbsterkenntnis, den Weg
zum Erkennen der Wahrheit und zur Befreiung aus der Gebundenheit
durch Täuschung – „Tat tvam asi“.

An sich nichts Neues und seit Tausenden von Jahren als Lehren des
Advaita-Vedanta bekannt, werden wir mit Aussagen konfrontiert, die
zunächst schwer zu verstehen und noch schwerer anzunehmen sind.
In bisher nicht gekannter Eindeutigkeit betont Sathya Sai Baba in dieser
Ansprache Aspekte der letztendlichen Wirklichkeit: den Weg der
Erkenntnis. Und dann fügt er hinzu:
„Was immer ihr in Zukunft wissen sollt, ist hierin enthalten.“ *
Für mich ist diese Ansprache ein Dreh- und Angelpunkt auf dem Weg
meiner spirituellen Bemühungen. Ging es bisher bei allem Gehörten und
Gelesenen um das Sammeln und Ergründen wichtiger Aussagen und
Texte; spätestens seit diesem denkwürdigen Tag geht es um viel mehr: um
das Annehmen und Erleben der Advaita-Lehren in ihrer
kompromisslosen Eindringlichkeit.
___________________________
*Ansprache Sathya Sai Baba vom 25. Oktober 2004. Deutsche Übersetzung von Susan
Boenke, Puttaparthi, Indien; in der Simultanübersetzung ins Englische heißt es: „All das,
was ihr in Zukunft lernen sollt, ist in dieser Rede enthalten.“ In einer anderen
Übersetzung aus dem Telugu heißt es: „Ihr werdet all das, was ihr wissen müsst,
wissen, wenn ihr versteht, was Ich euch gesagt habe.“ Zum vollständigen Text dieser
Ansprache vgl. Anhang Nr. 2.

Kapitel 1
Grundlagenerforschung:
Die Welt und ich
„Es gibt nichts außer Bewusstsein.“

Der Weg zum inneren Frieden, mein Weg zum inneren Frieden, ist eine
Reise von außen nach innen: So wie man auf ein Haus zugeht, zunächst
seine äußere Fassade betrachtet, dann die Eigenschaften seines Inneren
kennen lernt und seine Struktur erst richtig einzuschätzen vermag, wenn
man seine Baupläne und seine Statik versteht, so führt der Weg zum
inneren Frieden von den wahrgenommenen Objekten zum
wahrnehmenden Subjekt und schlussendlich zu dem, was die
Wahrnehmung und den Wahrnehmenden in Gang setzt.

1.1 Die Welt der wahrgenommenen Objekte
Im Anschluss an einen Vortrag über die Philosophie Descartes? (1596?1650)
kam es zu einer lebhaften Aussprache über den berühmten Ausspruch:
„Cogito ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich.“
„Mögen alle meine Denkinhalte falsch sein, die Tatsache, dass ich, der da
zweifelt, eben indem ich zweifle, denke, ist unzweifelbar gewiss.“

Descartes, der vor solcher Aussage alle denkbaren Gegenstände seiner
Umgebung untersucht hatte, musste feststellen:
„Wie die Objekte der Traumwelt Hervorbringungen des träumenden Subjekts
sind, so könnten auch die Objekte der realen Welt Hervorbringungen eines
Subjektes sein, denen keine objektive (Außen-) Realität entspricht.“1
Das reizte einen Teilnehmer zu dem Einwurf: „Aber niemand wird doch
behaupten können, dass der Stuhl hier vor mir nicht real existiert!“ Leichtsinnig
entgegnete ich ihm, dass ich sehr wohl behaupten möchte, dass der Stuhl
nicht real existiere und diesem nur eine konventionelle Funktion
zuzubilligen sei. Eine Entgegnung, die trotz meiner nachgeschobenen
Erklärungsversuche erhebliche Turbulenzen auslöste.
Denn: „Es ist in der Tat nicht leicht, sich vorzustellen, dass diese erschaffene
Welt eine Mischung aus Wirklichkeit und Täuschung ist. Wenn jemand mit
dem Kopf gegen eine Wand rennt, dann ist es schwierig für ihn zu glauben,
dass diese Wand halb unwirklich ist, dass ihr Name und ihre Form Erfindungen
einer irregeführten Einbildung sind und dass sie in Wirklichkeit das Göttlich-
Absolute (Brahman) ist.“2

Von Parmenides bis Watzlawick
Dabei sind Erkenntnisse zu dem wahren Sein der Dinge sowohl sehr alt
als auch brandneu. Hatte doch schon Parmenides (540 ? 480 v.Chr.) gesagt:
„Die Alltagswelt, in der wir leben, die Erscheinungen, die wir wahrnehmen,
Raum, Zeit, Bewegung, Veränderung, kurz, das, was wir als Realität erfahren,
existiert nicht, ist purer Schein. Was existiert, ist allein das Sein und dieses ist
eines, unteilbar, ohne Anfang und Ende, nicht entstanden und nicht

1 René Descartes, zitiert nach: Hauk, Lust an der Erkenntnis, Grundlagen der Philosophie, S. 120 und S. 121.
2 Sathya Sai Baba, Sathya Sai Baba spricht, Band 1, Dietzenbach 1999, S.141.

vernichtbar, ein unbewegliches, einheitliches, zusammenhängendes Ganzes, in
einem Raum, den es ganz einnimmt und ausfüllt.“3

Und Platon (427?347 v.Chr.) schilderte im „Höhlengleichnis“, im Dialog
zwischen Sokrates und Glaukon die Schwierigkeiten des an die
Schattenbilder Gefesselten, seine Verwirrung zu überwinden, das Wahre zu
erkennen, und sein Haften am vertrauten Schein. Ohne einen langwierigen
Prozess der Eingewöhnung und Wandlung seiner Persönlichkeit ist er der
Begegnung mit der Wahrheit offensichtlich nicht gewachsen:
„Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals
gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde?“
„Bei weitem“, antwortet Glaukon.4

Diese Passage des klassischen Dialoges kennzeichnet zutreffend unsere
tief sitzende Abneigung, altbewährte Denkmuster zur Wahrnehmung der
Erscheinungswelt aufzugeben und ergebnisoffen darüber nachzudenken,

· ob das, was uns als Objekt unserer Wahrnehmung aus sich heraus
existent erscheint, so und nur so existiert, wie wir es zu sehen
glauben (Abschnitt 1.1),

· und ob die Qualität solcher Wahrnehmungsprozesse in sich
gesehen korrekt ist oder nicht (Abschnitt 1.2).

Aus einer tief verwurzelten Abneigung – „das ist mir viel zu kompliziert und
zu theoretisch“ – übersehen und verpassen wir die einmalige Chance, uns
von dem Hindernis zur Überwindung des subtilsten Leidens aller Leiden,
dem Leiden an der Unerkenntnis unseres wahren Wesens, zu befreien!
Erst die Erkenntnisse der modernen Computertechnologie mit der
Darstellung virtueller Scheinwelten und die der Quantenphysik mit ihren
tiefen Einsichten in kleinste Elementarteilchen der Materie5 haben es uns
etwas leichter gemacht anzunehmen, was Parmenides postuliert und
Descartes mit seinem umfassenden In-Zweifel-Ziehen beweisen wollte.

3 Parmenides, Fragmente VIII, zitiert nach: Hauk, Lust an der Erkenntnis, S. 20.
4 Vgl. Platon, Politeia VII, S. 14ff, zitiert nach einer Übersetzung von Schleiermacher, Hamburg, 1958.
5 Vgl. Heisenbergs Untersuchungen zur Wellen- und Teilchennatur subatomarer Teilchen und zum Kollaps der Wellenfunktion, der durch den Akt der Beobachtung verursacht wird.

Atomphysiker wie Ernest Rutherford (1871-1937) dringen über Atome,
Atomkerne zu immer kleineren Elementarteilchen vor, die nur noch
indirekt an ihren Wirkspuren erfahrbar sind, und konstatieren im
Verhältnis von Materie und leerem Raum immer weniger Materie und
immer mehr Zwischenraum. Bis, auf der Ebene der Quanten-Feldtheorie,
der klassische Gegensatz zwischen festen Teilchen und dem diese
umgebenden Raum völlig überwunden wird:
„Das Quantenfeld wird als die fundamentale physikalische Einheit betrachtet,
ein kontinuierliches Medium, das überall im Raum vorhanden ist; Teilchen
sind lediglich eine örtliche Verdichtung des Feldes, eine Konzentration von
Energie, die kommt und geht, und dabei ihren individuellen Charakter verliert
und sich im zugrunde liegenden Feld auflöst“, sagte Albert Einstein. „In der
neuen Physik ist kein Platz für beides, Feld und Materie, denn das Feld ist die
einzige Realität.“6

Warum fällt es uns dennoch und weiterhin so schwer, unsere
Alltagserfahrung über die Objekte der Außenwelt mit solchen
historischen wie neuzeitlichen Erkenntnissen in Einklang zu bringen?
Der Grund liegt darin, dass wir seit Menschengedenken eine tief sitzende
Erfahrung weitertragen, nach der wir die gemeinsam mit vielen Menschen
unseres Kulturkreises erfahrenen Wirkungen der Objekte auf unser in
jeweils sehr ähnlicher Weise geprägtes Bewusstsein übertragen und als
vermeintlich wahr fehlinterpretieren.

Die Erforschung der ontologischen Grundlagen der Wirklichkeit ist
Gegenstand einer aktuellen Wissenschaftsrichtung, die sich als
„Konstruktivismus“ bezeichnet. Die Konstruktivisten lassen die klassische
Diskussion darüber wieder aufleben, dass
„jede Wirklichkeit im unmittelbarsten Sinne die Konstruktion derer ist, die diese
Wirklichkeit zu entdecken und erforschen glauben. Das vermeintlich Gefundene
ist ein Erfundenes, dessen Erfinder sich des Aktes seiner Erfindung nicht
bewusst ist, sondern sie als etwas von ihm Unabhängiges zu entdecken vermeint
und zur Grundlage seines »Wissens« und daher auch seines Handelns macht.“7

6 M. Capek, The Philosophical Impact of Contemporary Physics, Princeton 1961, S. 319: „There is no place in this new kind of physics both for the field and matter, for the field is the only reality“.
7 Paul Watzlawick, Die erfundene Wirklichkeit, S. 9f.

Wir gehen an die vermeintlich »da draußen« bestehende Wirklichkeit mit
gewissen Annahmen heran, die wir für objektive Aspekte der Wirklichkeit
halten, während sie nur die Folgen der Art und Weise sind, wie wir nach
der Wirklichkeit suchen.
Und wir versuchen, mit Situationen fertig zu werden, für die keine oder
unzureichende Erfahrungen zur Verfügung stehen, indem wir scheinbare
Ordnungen und Zusammenhänge konstruieren, die in Wirklichkeit gar
nicht bestehen:
„Wir neigen dazu, nach einer Ordnung im Ablauf der Geschehnisse zu suchen,
und sobald wir eine solche Ordnung in sie hineingelesen haben, wird diese
Weltschau durch selektive Aufmerksamkeit selbstbestätigend. Wenn sich
einmal eine grundlegende Prämisse ausgebildet und gefestigt hat, ergibt sich
der Rest der blühenden Wahnvorstellung fast zwanglos aus anscheinend
durchaus logischen Schlussfolgerungen von dieser einen absurden Prämisse.“8
Eine erfolgreiche Kommunikation über solche Konstrukte unserer
Wahrnehmung hängt dann zusätzlich noch davon ab,

– richtig zu erkennen, in welcher Vorstellung von Realität der
Kommunikationspartner lebt,

– und richtig zu erkennen, welche Vorstellung sich der Kommunikationspartner
von meiner Wirklichkeitsvorstellung macht – „Ich denke, dass er
denkt, dass ich denke…“

Die Schwierigkeit, erfolgreich zu kommunizieren, bleibt, weil es einerseits
die inhärente Existenz der Phänomene nicht gibt und wir andererseits
über subjektive Wirklichkeitsauffassungen naiv so sprechen, als ob sie der
»scheinbaren« Wirklichkeit entsprächen. Zu letzterem kommt
erschwerend hinzu, dass dabei zwei sehr verschiedene Begriffe von
Wirklichkeit ungenügend unterschieden werden. Der erste
Wirklichkeitsbegriff bezieht sich nach Watzlawick
„auf die rein physischen und daher weitgehend objektiv feststellbaren
Eigenschaften von Dingen und damit entweder auf Fragen des sogenannten
gesunden Menschenverstandes oder des objektiven wissenschaftlichen
Vorgehens. Der zweite beruht ausschließlich auf der Zuschreibung von Sinn
und Wert an diese Dinge und daher auf Kommunikation. Im Bereich dieser

8 Paul Watzlawick, Wie wirklich ist die Wirklichkeit, S. 84.

Wirklichkeit zweiter Ordnung ist es also absurd, darüber zu streiten, was
‚wirklich‘ wirklich ist.“9

Wenn wir auf das Beispiel der Wirklichkeit des Stuhles zurückkommen
und seine Bestandteile genau untersuchen, stellen wir fest, dass er
zunächst aus seinen Teilen, den Beinen, der Sitzfläche und der
Rückenlehne, besteht, diese wiederum aus Holz, Leim und Farbe und
letztere aus den jeweiligen Rohstoffen bis hin zu jenen kleinsten
Elementarteilchen, die aller Materie zugrunde liegen. Das »Stuhlhafte«
selbst aber finden wir nicht in seinen Teilen, schon gar nicht in seinen
kleinsten Elementarteilchen! Das ist keine »Stuhlspalterei«, sondern
wichtige gedankliche Voraussetzung, um dem Wesen der Objekte auf die
Spur zu kommen. Denn immerhin erzeugt der Stuhl in unserem
Sehbewusstsein die Wahrnehmung eines »tatsächlich« funktionierenden
Gegenstandes.

Schein und Sein der Phänomene
Der vermeintliche Widerspruch zwischen Schein und Sein der
Phänomene wurde in den Schulen der buddhistischen Philosophie mit
immer größerer Tiefe und Genauigkeit untersucht. Mit der Formulierung
von „Zwei Wahrheiten“ als einander ergänzenden Aspekten aller
Phänomene,

– der konventionellen Wahrheit ihres Erscheinens und
– der letztlichen Bestehensweise,

kann auf der Ebene der konventionellen Wahrheit ihr abhängiges
Entstehen, ihr Erscheinen und Bestehen in der Welt erklärt werden10:

9 Paul Watzlawick, Wie wirklich ist die Wirklichkeit, S. 142f.
10 Gonsar Rinpoche, Erscheinung und Leerheit, S.27ff.

Alle Phänomene, d.h. alles, was als Objekt des Geistes erscheint und vom
Geist wahrgenommen werden kann, besteht in Abhängigkeit.

Alle zusammengesetzten Phänomene – seien es physische Objekte wie der
Körper, immaterielle wie der Geist, oder so genannte nicht zugeordnete
Phänomene wie »Person« oder »Zeit«, die weder dem Körper noch dem
Geist zugerechnet werden – sind

– abhängig von Ursachen und Umständen, die ihr Erscheinen
bewirken, und sind daher unbeständig und vergänglich, und

– abhängig von Teilen und können nur in Abhängigkeit von diesen
Teilen erfasst und benannt werden.

Alle Phänomene ? d.h. auch die nicht zusammengesetzten, wie die
Vorstellung des leeren Raums oder das Konzept der Leerheit ? sind

– abhängig vom Bewusstsein, das sie erfasst,

– abhängig von Name und Vorstellung, vom Namen, mit dem das
erscheinende Phänomen gemäß Konvention benannt wird, und von der
Vorstellung, mit der ihr Erscheinen im Bewusstsein verknüpft wird.

Schon in den frühesten Erkenntnissen der Vaibhashika-Schule, der
»Schule der Unterteilungen«, ging man von „dem Bestehen der Objekte in
Abhängigkeit von äußeren Ursachen und Umständen aus, die zusammenkommen
und die Wirkung der äußeren Objekte erzeugen,“11 glaubte aber noch, an einer
wahren Existenz der Objekte in Form kleinster Teilchen festhalten zu
können. Erst mit Asanga (ca. 310?390 n.Chr.), dem Wegbereiter der
Cittamatra-Schule, der »Nur-Geist-Schule«, werden äußere Einheiten als
wirklich bestehend negiert.

Schließlich gelang es in den Definitionen der aus heutiger Sicht höchsten
Schule des Madhyamika, der »Schule des mittleren Weges«, die wesentlich
von Nagarjuna (2. Jh. n.Chr.) und Candrakirti (6. Jh. n.Chr.) geprägt wurde,

11 Diese und die folgenden Zitate sind den mir vorliegenden Skripten der Belehrungen „Grundlagen
buddhistischer Philosophie“ von Gonsar Rinpoche entnommen.

„mit einer Begründung sowohl das subtile abhängige Entstehen auf
konventioneller Seite, als auch die Negation der wahren Existenz auf
letztendlicher Ebene als komplementäre Aspekte einer Bedeutung anzusehen.
Weil alle Phänomene abhängig von Ursachen und Umständen entstehen und
abhängig von Teilen bestehen, sind sie logischerweise frei von wahrer
Selbstexistenz.
Und umgekehrt bedeutet der völlige Mangel an Selbstexistenz bei gleichzeitiger
Wirksamkeit und Funktion der Phänomene ihr abhängiges Bestehen.“

„Draußen ist nichts!“
Am konsequentesten wird die Scheinexistenz der Objekte in der »Nur-
Geist-Schule« vertieft: Alle Objekte der Wahrnehmung bestehen nicht von
ihrer eigenen Seite her; sie bestehen lediglich in der Natur des Geistes,
und außer ihrem Erscheinen gegenüber dem Geist gibt es keine solchen
äußeren Objekte.12

Ein solch radikales Verständnis der Nur-Geist-Schule konnte von den
Verfechtern der Madhyamika-Schule nicht akzeptiert werden,
„weil die Cittamatrin in das Extrem des Eternalismus fallen, da sie die
Objekte – auch auf konventioneller Ebene – als in der Natur des Geistes
bestehend betrachten, den Geist aber als wahrhaft existent ansehen.
Und sie fallen in das Extrem des Nihilismus, weil sie äußere Einheiten ? auch
konventionell ? als nicht existent betrachten.“

Gonsar Rinpoche akzeptiert in seinem Buch „Erscheinung und Leerheit“
zwar grundsätzlich,
„dass in Wirklichkeit alle Phänomene, ob äußere oder innere Objekte, in
Verbindung mit dem Geist oder in Abhängigkeit vom Geist, der diese Objekte
erkennt, entstehen und existieren“,
und dass es außer der geistigen Erscheinung kein selbständiges äußeres
Objekt geben kann. Er hält aber die Auffassung der Cittamatrin für zu
extrem und begründet dies:

12 Gonsar Rinpoche, Skripten, Teil 64, Seite 35: „Alle Objekte der Wahrnehmung sind leer davon, mit eigener Charakteristik als Grundlage für die Benennung von Form zu existieren.“ , „Erfasstes und Erfassendes – der formerfassende Zustand des Geistes im Grundlagenbewusstsein, das alaya-vijnāna – sind leer davon, von unterschiedlicher Substanz zu sein.“

„In manchen Sutras hat der Buddha erklärt, dass es keine äußeren Objekte gibt
und alle Objekte von der Natur des Geistes sind. Diese Aussage wird in
manchen philosophischen Schulen wörtlich interpretiert, und dabei werden alle
Objekte als von geistiger Natur betrachtet.“

Die eigentliche Bedeutung dieser Aussage sei es vielmehr, dass es keine
äußeren oder andere Objekte gebe, die ganz getrennt und unabhängig
vom Geist existieren, der dieses Objekt erfasst.
„Wenn wir ein Objekt erfassen, nimmt unser eigener Geist, das Bewusstsein,
die Aspekte dieser Objekte an, und in dieser Weise erkennen wir das Objekt.“13

Im Ergebnis dieser Überlegungen bleibt jedenfalls festzuhalten, dass das
Erscheinen der Objekte nicht mit ihrer eigentlichen Existenzweise
übereinstimmt und dass wir zwischen der Art und Weise, wie sie
erscheinen und wie sie letztlich existieren, unterscheiden müssen:
„Wenn ein Phänomen in einer bestimmten Weise erscheint, man diese
Erscheinungsweise aber nicht in der Wirklichkeit bestätigt findet, kann die
Erscheinungsweise zwar auf der Ebene der Täuschung akzeptiert werden, nicht
aber auf der Ebene der Wahrheit.

Auf der Ebene der Wahrheit muss ein Phänomen genauso erscheinen, wie es
tatsächlich existiert, oder – anders ausgedrückt – man muss das Phänomen in
der Wirklichkeit so finden können, wie es dem Geist erscheint.
Weil uns die Objekte aber anders erscheinen, als sie wirklich existieren, wird
gesagt, dass es sich bei den Phänomenen nur um Täuschungen handelt,
beziehungsweise dass sie nur auf täuschende Weise existieren.
Das ist der Grund dafür, dass im Buddhismus alle Phänomene als nicht
wahrhaft existent dargestellt werden.“14

13 Alle Zitate: Gonsar Rinpoche, Erscheinung und Leerheit, S. 72f.
14 Dalai Lama, Grundzüge buddhistischer Philosophie, Vortrag in Hamburg vom Oktober 1991

Die »Drei Charakteristika« der Objekte
.
Im schwierigen Bemühen, zu verständlichen Erklärungen zum Schein und
Sein der Objekte zu kommen, bietet die »Nur-Geist-Schule« mit ihrer
Klassifizierung der Objekte nach den Drei Charakteristika eine
zusätzliche Verständnishilfe15:

Alle Objekte – genauer: alle gültigen Phänomene – die vom Geist erfasst werden
können – materielle und immaterielle, »äußere« und innere Objekte, Dinge wie
Personen, haben jeweils drei Aspekte des Erscheinens im Geist, der
Wahrnehmung im Bewusstsein.

1. Sie werden als Objekte wahrgenommen, die auf der Grundlage ihrer
Teile und durch Ursachen und Umstände, also nicht aus eigener Kraft in
Erscheinung treten und deshalb »Fremdmacht-Objekte« genannt
werden. Sie resultieren aus spezifischen Eindrücken im Kontinuum des
Geistes, sind als zusammengesetzte Phänomene unbeständig und
vergänglich.

2. Auf der Erfahrungsgrundlage des »Fremdmacht«-Aspektes bildet sich eine
Vorstellung über das Objekt, der Geist schafft sich ein Bedeutungsbild
vom Objekt seiner Wahrnehmung, ein so genanntes »Generic Image«,
und benennt es gemäß weltlicher Konvention. Die Vorstellung vom
Objekt ist geprägt von der Qualität vorangegangener Erfahrungen zu
diesem Objekt. Da dieser Aspekt der Wahrnehmung gänzlich der
Vorstellung über das Objekt entspringt, wird er als »Ganzbenanntes«
bezeichnet.

3. Neben diesen Aspekten der konventionellen Wahrnehmung gibt es als
dritten Aspekt den des »Vollerstellten«, der sich auf die letztliche
Wirklichkeit bezieht, „auf das, was von einer direkten Wahrnehmung frei von
dualem Erscheinen erkannt wird.“

Die beiden ersten Aspekte, der »Fremdmacht-Aspekt« und der Aspekt des
»Ganzbenannten«, gehören zur konventionellen Wahrheit der
Erscheinungswelt; sie sind erfahrbar und wirksam, sind jedoch getäuschte
Wahrnehmung.

Der dritte Aspekt des »Vollerstellten« hingegen ist als letztlicher Aspekt
wahr und unvergänglich, aber jenseits unserer konventionellen
Erfahrungswelt – und deshalb nicht angemessen beschreibbar.

15 Darstellung auf der Grundlage von Gonsar Rinpoche, Skripten, Teile 47ff.

Zur Verdeutlichung dieser Unterscheidungen bietet sich erneut das
bereits erwähnte Stuhl-Beispiel an: Die Erscheinungsgrundlage seiner
Teile ist der »Fremdmacht-Aspekt«, die sich daraufhin im Bewusstsein
bildende Vorstellung von einem Stuhl ist der Aspekt des »Ganzbenannten«,
und seine Leerheit, seine letztendlich wahre Grundlage, ist der Aspekt des
»Vollerstellten«.

Diese Charakteristik der Objekte ist auch auf die Wahrnehmung der
Person anwendbar: Neben den Erscheinungsgrundlagen der Person in
Form von Körper und Geist, ihrem »Fremdmacht-Aspekt«, und dem Ego
mit seinen Vorstellungen und Konzepten zur Person als Aspekt des
»Ganzbenannten«, gibt es das Selbst, einen letztlichen und wahren Aspekt,
den des »Vollerstellten«.

Diese Unterscheidungen spielen in den nachfolgenden Erläuterungen
zum Bestehen der Person, zur Leerheit aller Phänomene und zu den sich
anschließenden Fragestellungen, beispielsweise zur Frage nach »Gott«
und nach dem Wesen der Wiedergeburt, eine wichtige Rolle und müssen
jeweils mitgedacht werden.

1.2 Ich, der Betrachter der Welt
„Der illusorische Charakter jeder Erscheinung im Universum wird verstanden
und akzeptiert – außer dem illusorischen Wesen desjenigen, der dies versteht
und akzeptiert.“16
Waren die vorangegangenen Gedanken darauf gerichtet, die Existenz der
Objekte in richtiger Weise zu analisieren, so blieb bislang das »Ich«, der
Betrachter der Welt, von Zweifeln an seiner wahren Existenz verschont.
War ich doch selbst lange Zeit „ziemlich sicher und durchaus zufrieden“,
zwar in stets veränderlicher Form, aber wenigstens in einem
substantiellen Kern als konkretes Individuum in einer konkreten Welt zu
existieren und zu überleben.

16 Ramesh S. Balsekar, Die Eine Wahrheit, S. 45 .

Die Identitätslosigkeit der Person
Im Alltag erleben wir uns, die Person, den Betrachter der Welt, als
unabhängig, getrennt von unseren Aggregaten Körper und Geist, ja sogar
als deren selbstmächtigen Besitzer. Sagen wir doch spontan: „mein Körper
schmerzt“ oder „mein Geist ist zerstreut“.

Bei anderer Gelegenheit sagen wir – ebenfalls ohne zu zögern – „ich habe
Kopfschmerzen“ oder „ich bin vergesslich“ und identifizieren uns mit
unserem Körper, greifen nach Eigenexistenz.17

Sathya Sai Baba wiederholt aber immer wieder: „Ich bin nicht dieser
Körper!“, und er will damit auch sagen, dass wir es ebenfalls nicht seien.

Dabei wird das Wort »Körper« in unserem Sprachverständnis der
eigentlichen Bedeutung des Sanskrit-Wortes »rupa« nicht gerecht.
Gemeint ist mit obiger Aussage die unzulässige Gleichschaltung der
»Ich«-Erfahrung mit dem Aggregat der Form, die neben Gestalt und Farbe
alle Sinneswahrnehmungen wie Klang, Geruch, Geschmack und Tastbares
umfasst. Dazu gehört auch das Bewusstwerden immaterieller Formen,
wie sie beispielsweise in meditativen Vorstellungen in der Darbringung
von wirklich aufgestellten und geistig vorgestellten Opfergaben rezitiert
werden.

Auch die Anmaßung, dieses »Ich« besitze seinen Körper, geht an der
wahren Situation völlig vorbei. Eher könnte oftmals angenommen
werden, die weltlichen Formen, wie wir sie über das Sinnesbewusstsein
vielfältig wahrnehmen, besetzen und besitzen das »Ich«, indem sie unser
Wünschen und Wollen übermäßig bestimmen und uns zu Sklaven der
Sinneswahrnehmungen machen.

Zwar ist das »Ich«, das Ego, unauflöslich mit diesem Körper-Geist-
Mechanismus verbunden und der Körper tatsächlich eine Art von Besitz,
nur ist der Eigentümer nicht das illusorische, konzeptuelle «Ich», sondern
das Selbst als transpersonales Bewusstsein:

17 Diese Ausführungen werden im Vergleich verständlicher: Ein Fluss ist nicht identisch mit dem Wasser, das in ihm fließt, auch nicht völlig getrennt von diesem. Er »besitzt« das Wasser nicht, sondern funktioniert auf Wasser als seiner Grundlage. Er funktioniert auch dann noch, wenn sein »augenblickliches Wasser« in das Meer geflossen ist und anderes Wasser sein Bett füllt; ja, er funktioniert als Benennung sogar ohne Wasser, wenn wir seine abstrakte Funktion ansprechen: „der Fluss ist ausgetrocknet“.

„Es ist wichtig zu erkennen, dass sich Wünsche in euch regen werden, solange
es den Geist gibt. Solange Wünsche in euch existieren, kann die falsche
Vorstellung von »ich« und »mein« nicht verschwinden. Solange in euch das
Empfinden von »ich« und »mein« lebt, wird euch ahamkāra, die irrtümliche
Identifikation mit dem Körper, nicht verlassen. Solange euch ahamkāra nicht
verlässt, kann auch die Unwissenheit, ajnāna, nicht weichen.“18

Greifen nach Eigenexistenz kann angeboren sein oder sich als
intellektuelle Vorstellung entwickeln und das Erkennen der
Identitätslosigkeit der Person verhindern. Es wird in den Schriften der
buddhistischen Philosophie als eine der schwerwiegendsten Formen von
mangelnder Erkenntnis angesehen. Weil uns eine nicht vorhandene
innewohnende Identität erscheint, verhindert sie, die Identitätslosigkeit
der Person – von gröberen bis zu den subtilsten Ebenen abgestuft – in
richtiger Weise zu erkennen.

Wenn von Identitätslosigkeit gesprochen wird, bedeutet das nicht, dass
die Person gar nicht besteht, vielmehr dass die Art und Weise, wie uns
das »Ich« erscheint, zu einer getäuschten Auffassung führt. Daher gilt es
zu erkennen, inwieweit wir dieser Täuschung unterliegen, was die
eigentliche Art des Bestehens des »Ichs« ist, um uns dadurch von solcher
Täuschung vollständig zu befreien.

Was aber ist die Person?

Das Ich, die Person, das Individuum,
· ist ein zusammengesetztes, daher unbeständiges Objekt,
· das auf der Grundlage und abhängig von den fünf Aggregaten,
den »skandhas«, und deren Kontinuität erfasst und verstanden
wird
· und hinsichtlich Name und Form benannt wird.
· Es ist von einer Natur mit den Aggregaten,
hinsichtlich Name und Bedeutung gleich,
· ist ein nominelles Objekt, das nur über den Umweg des

18 Sathya Sai Baba, Sommersegen in Brindavan, Band 7, S. 86.

Verstehens seiner Aggregate verstanden wird,
· ist ein nicht-zugeordnetes Objekt, das weder mit Form und Geist
identisch ist, weder unabhängig eins noch unabhängig verschieden ist,
· dennoch nicht nicht-existent, weil es wirkungsvoll auf obiger
Benennungsgrundlage erfahren wird und funktioniert.

Soweit die präzisen, wenn auch mühsam zu verstehenden Aussagen der
buddhistischen Texte zum Wesen der Person.19

Etwas vereinfachend bleibt festzuhalten,
· dass das »Ich« nur über die ihm zugrunde liegenden fünf
Aggregate, die skandhas, erkannt werden kann, dennoch nicht
nicht-existent ist, weil es wirkungsvoll auf obiger
Benennungsgrundlage erfahren wird und funktioniert.

Die Natur des Geistes
Die angesprochenen Aggregate der Person werden gegliedert in

– Körper, der als Form und Grundlage aller geistigen Erfahrungen
beschrieben wird (1. Skandha), und
– Geist20, der als „klar“, d. h. frei von Materie, als „erkennend“, fähig
alles zu erkennen, was vom Geist erfasst werden kann, und als
„unbegrenzt“, als unbehindert in seinen Erfassungsmöglichkeiten
definiert wird.

Der Geist wird unterschieden nach den Geistesfaktoren, auch
Sekundärbewusstsein genannt, und dem zentralen Geist, dem
Primärbewusstsein.

– Die Geistesfaktoren, definiert als „den Geist stets begleitende
zusammengesetzte Faktoren, die die Merkmale der Objekte aus eigener

19 Vgl. Gonsar Rinpoche, Skripten.
20 In der buddhistischen Terminologie werden die Termini »Geist«, engl. »mind«, und »Bewusstsein«, engl. »consciousness«, weitgehend synonym verwendet, wobei »Geist« das umfassende Wesen des Geistes in Abgrenzung zum Formhaften und »Bewusstsein« eher die spezifischen Funktionen des Erkennens und des Bewusstwerdens beschreibt.

Kraft und die Natur der Objekte durch den begleitenden zentralen Geist
erfassen“, werden ihrerseits unterschieden in:

– Empfindung, Erfassen aus eigener Kraft (2. Skandha),
– Unterscheidung, Erfassen der Merkmale (3. Skandha),
– Gestaltungskraft (4. Skandha),

– während der zentrale Geist, das Primärbewusstsein (5. Skandha), „die
Natur der Objekte aus eigener Kraft und die Merkmale der Objekte durch
die begleitenden Faktoren“ erfasst.

Wenn wir jetzt noch genau wissen, wie Bewusstsein, funktioniert, dann
haben wir das theoretische Rüstzeug zum Verständnis von Person und
Bewusstsein zusammengetragen:

Bewusstsein funktioniert
· von einem Augenblick zum anderen veränderlich,
· als Ansammlung vieler kurzer Augenblicke geistiger Zustände,
· als zusammengesetztes, daher unbeständiges Objekt,
· abhängig von Ursachen und Umständen,
· als Kontinuität gleichartiger Augenblicke, wobei der jeweils
vorhergehende Augenblick des Geistes den nachfolgenden „von
gleicher Art“ erzeugt.

Als wichtige Aussagen dieser umfangreichen Wiedergabe der
kanonischen Definitionen sollten in Erinnerung bleiben,

· dass das Bewusstsein eine Abfolge vieler kurzer Augenblicke
geistiger Impulse ist, wobei der jeweils vorhergehende Augenblick
des Geistes, zusammen mit den situativen Aspekten der aktuellen
Wahrnehmung, den nachfolgenden „von gleicher Art“ erzeugt, und
auf diese Weise Kontinuität und kognitive Evolution ermöglicht,

· dass Handlungen, Handlungsabsichten und tatsächlich
ausgeführte Handlungen, in subtilen Bewusstseinsschichten
spezifische Erfahrungsspuren, Vāsanās21, hinterlassen, die ihrerseits
die Qualität der ihnen nachfolgenden Handlungen prägen.

Die fünf Hüllen
Ähnliche Spezifikationen zu den Strukturen von Körper und Geist und
zur Funktion von Bewusstsein finden sich auch in den vedischen
Schriften.22 Hier werden die sich durchdringenden, fortschreitend
feinstofflicheren Hüllen, die den Geist umgeben, panchakoshāh genannt.

Ausgehend von annamayakosha, der Nahrungshülle – gemeint ist der
grobstoffliche physische Körper, der durch die Umwandlung von
Nahrung gebildet wird – über prānamayakosha, einer feinstofflichen
Hülle der Lebenskräfte, kommt man zu manomayakosha.

Diese Hülle der Gedanken, Begierden und Gefühle gilt als Schaltstelle des
Geistes, des mind.

Der mind kann sich auf die Sinnesorgane ausrichten und sich in leidvolle
Erfahrungen verstricken. Statt in weltlichen »Flachwasserkonzepten«
hängen zu bleiben, birgt er die Chance, in »göttliche Tiefseeforschung«
eingebunden zu werden, sich durch buddhi, die höhere Intelligenz, auf
vijnānamayakosha, die Erkenntnishülle, auszurichten, um zu
unterscheiden, was wahr und was nicht wahr ist.

21 Die Sanskrit-Termini »vāsanā«, geistige Tendenz, und »samskāra«, Tatabsicht, Wollung, werden vielfach synonym verwendet. Dennoch bezeichnet der Terminus »vāsanā« eher geistige Denkbahnen, die sich über einen langen Zeitraum in subtilsten Bewusstseinschichten eingeschliffen haben und als charakterliche Prägung der Person wieder an die Oberfläche des Denkens kommen, während der Terminus »samskāra« als Tatabsicht sowohl die karmische Grundlage bezeichnet, die die Qualität und das Milieu der zukünftigen Existenz beeinflusst, als auch das, was als aktivierende Kraft , als Willensregung, in den konstituierenden Komponenten der Person, den skandhas, die abgespeicherten Tendenzen zu Wahrnehmungen in Beziehung setzt (4. Skandha).
22 Während in der buddhistischen Terminologie »Geist« bzw. »Bewusstsein« weitgehend gleichbedeutend als Aggregat der erscheinenden Person verwendet werden, und die absolute Dimension als »Leerheit« bezeichnet wird, wird in der vedischen Tradition nur »Geist« (mind) als Erscheinungsform der Person benannt, während das den Geist belebende (reine) »Bewusstsein« (consciousness) zumeist als die letztendlich wahre Dimension mit brahman gleichgesetzt wird.

Insoweit ist es dieser Teil des Geistes, der bindet oder befreit: Nach innen
gerichtet bewirkt er Bündelung, Einsicht, auch Einsamkeit; nach außen
gerichtet vermittelt er Vielfalt, Zerstreuung und Zeitvertreib.
„Der Geist, nach innen gewandt, ist das Selbst, nach außen gewandt ist er das
Ego und die ganze Welt.“23

Die subtilste der fünf Hüllen ist ānandamayakosha, die Hülle der
Glückseligkeit; sie ist dem Atman, dem reinen Sein aus der Sicht des
Individuums, am nächsten. Das Brahman-Prinzip, das als Atman im
Körper wirksam ist, ist nicht Teil des Körpers, belebt alle Instrumente des
Erkennens, ist aber selbst ohne Aktivität und ohne Eigenschaften.

Zwei Aspekte der Strukturierung des Geistes scheinen mir besonders
wichtig zu sein und bedürfen im Verlauf dieser Erörterung weiterer
Vertiefung:

· Zum einen geht es um die »Ich«-Vorstellung.
Wenn das »Ich«, die »Person«, kein substantielles, sondern ein
nominelles Phänomen ist, das nur auf der Grundlage von Körper und
Geist erfahren und verstanden werden kann, was erzeugt in uns
dennoch die Vorstellung eines kontinuierlichen und separaten »Ichs«?
Der Schlüssel zu einer solchen getäuschten Wahrnehmung liegt
offensichtlich in citta, dem »operationalen Zentrum« des Geistes, in dem
Denkprozesse und Erinnerungsvermögen zum Ausdruck kommen.
Eben dieses Erinnerungsvermögen verknüpft vorangegangene mit
nachfolgenden geistigen Impulsen und erzeugt durch Erinnerung an
das Vorangegangene die Kontinuität des Geistes, die wir als
Kontinuität der Person missverstehen.

· Zum anderen geht es um Atman.
Es geht um das, was bei oberflächlicher Betrachtung und Definition als
»Seele« der Person und somit als Teil der Person betrachtet werden
könnte. Das Brahman-Prinzip, das Leuchten des Atman im Körper,
belebt alle Instrumente des Erkennens, „ist aber selbst ohne Aktivität und
ohne Eigenschaften.“

23 Ramana Maharshi, Sei, was du bist!, S. 25.

„Atman ist die körperlose Wirklichkeit, das Prinzip, das im Körper wirksam,
aber nicht Teil des Körpers ist.“24

Wahrnehmen und Verstehen
Das »Ich«, die Person, ist zwar ohne Eigenexistenz, hat aber als
Wahrnehmender in der Kommunikation mit dem Wahrgenommenen
seine wichtige, weil nützliche Funktion: Sinnesobjekte, Dinge, Konzepte,
Personen, auch die eigene Person als Betrachtungsobjekt, bilden die
phänomenale Erfassungsgrundlage für die erfassende Person und den
sich anschließenden Prozess der mentalen Verarbeitung des Erfassten.

Die von den Sinnesobjekten ausgehenden »energetischen« Impulse
gelangen
– von den äußeren Sinnesorganen
– über die inneren Sinnesorgane, die jnānendriyas25,
– in das Sinnesbewusstsein26,
das in vedischer Tradition manomayakosha, die feinstofflich geistige
Hülle der Gedanken, Begierden und Gefühle, genannt wird.

Wie das »Ich« Objekte, gedankliche Konstrukte, andere Personen oder
sich selbst wahrnimmt, entscheidet sich in den Vier Antahkarana, den
mentalen Kapazitäten des manomayakosha, die den Geist befähigen, zu
denken, zu empfinden, zu unterscheiden und sich zu erinnern:

24 Vgl. Sathya Sai Baba, Upanishaden, S. 56f und Quellen der Weisheit, S. 45.
25 In vedischer Tradition die fünf jnānendriyas, innere Erkenntnissinne des Sehens, Hörens Schmeckens, Riechens und Tastens.
26 In der buddhistischen Philosophie spricht man von je sechs äußeren Sinnesorganen, sechs inneren Sinnesorganen (die den jnānendriyas entsprechen) und sechs Arten von Bewusstsein, wobei als Sechstes jeweils der Geist als «Denkorgan», der Denksinn und das Bewusstsein des Denksinns hinzugenommen wird, und der jeweils vorhergehende Augenblick des Denksinns das «Denkorgan» für den nachfolgenden Augenblick bildet. (Gonsar Rinpoche, Skripten).

Hier findet die kognitive Verarbeitung der wahrgenommenen Impulse
statt, die über die jnāmendriyas aufgenommen wurden.

Das Zusammenspiel dieser Geisteskräfte, sorgt für die Qualität der
Wahrnehmung, dafür, wie das «Ich» die scheinbar äußeren Objekte seiner
Sinne korrekt, beziehungsweise getäuscht wahrnimmt.27

Auf diesem Weg der Sinneswahrnehmung wird die Primärerkenntnis, ein
erster ungetäuschter Augenblick der Wahrnehmung, im Bruchteil einer
Sekunde zur Sekundärerkenntnis, zu einer getäuschten Vorstellung, die
der Geist nicht mehr direkt, sondern nur mit Hilfe eines geistigen Bildes,
eines „Generic Image“, aufnimmt.

Sobald der wahrnehmende Geist mit einer bestimmten
geistig/energetischen Schwingung des Wahrzunehmenden in
Verbindung kommt, verbindet er diese mit den Konzepten und den
Wertungen, wie sie aus vorangegangenen Wahrnehmungen gleicher Art
im Bewusstsein abgespeichert wurden.28

27 Zur getäuschten Wahrnehmung von Formen und Farben: Dass wir beispielsweise eine Farbe »grün« eines Objektes als »grün« wahrnehmen und als solche auch kommunizieren, ist keine dem Objekt innewohnende, also inhärente Eigenschaft, sondern das Ergebnis eines Wahrnehmungsprozesses, bei dem Lichtreflexe auf dem betreffenden Objekt auf unser Sehorgan treffen, von dort auf das Sehbewusstsein übertragen werden und sich dort mit einem abgespeicherten Farbkonzept »grün« verbinden. Erst die Parallelität der gleichen Prozesse bei anderen und deren ähnliche Prägung erlauben die einvernehmliche Beurteilung des Objektes als »grün«, leider verbunden mit der beiderseitigen Möglichkeit einer parallelen Täuschung.
28 Der erste Augenblick einer ungetäuschten Primärerkenntnis und seine unmittelbar anschließende
Wandlung in getäuschte Sekundärwahrnehmung wird in neurowissenschaftlichen Untersuchungen zur
zeitlichen Abfolge geistiger Regungen bestätigt: Einer ersten Phase nichtbegrifflicher Wahrnehmung folgt innerhalb eines Bruchteiles einer Sekunde eine begriffliche Kognition, die auf das Gedächtnis gestütztermöglicht, den wahrgenommenen Gegenstand zu erkennen und zu benennen. Vgl. Francisco J. Varela, in: Goleman, Dialog mit dem Dalai Lama, S. 454ff.

„Die mangelhafte Wahrnehmung der Welt und ihrer Objekte besteht darin,
dass der Mensch das Objekt nicht wirklich in seiner Gesamtheit als
Manifestation des Absoluten, als Ausdruck der Totalität, wahrnimmt. Was er
wahrnimmt, ist nur die Erscheinung in seinem Denken, basierend auf der
Antwort seiner Sinnesorgane auf den Kontakt mit diesem äußeren Objekt und
bezogen auf die Erinnerung an seine früheren Erfahrungen.
Wenn ein Objekt von einem anderen, mit Empfindungsfähigkeit versehenen
Objekt wahrgenommen wird, wirkt die Ausstrahlung des wahrgenommenen
Objekts auf die Sinne des wahrnehmenden Objekts, was eine entsprechende
komplexe, mentale Schwingung hervorruft. Das mentale Bild, das auf diese
Weise im Wahrnehmenden ausgelöst wird, wird nicht vom wahrgenommenen
Objekt erzeugt, sondern nur von diesem aktualisiert oder erweckt.“29

Über die gewöhnliche, getäuschte Wahrnehmung hinausgehend, gibt es
eine Form der direkten Wahrnehmung, wie sie ein Yogi, nach
buddhistischem Verständnis auf der dritten Stufe des Weges30, frei von
dualem Erscheinen erfährt. Sie kommt aus der für uns nicht erfassbaren
Fülle und Zeitlosigkeit des Selbst und überträgt aus subtilen Schichten des
Bewusstseins eine Weisheitserkenntnis auf manas, den erkennenden
Aspekt des Geistes. Eine solche direkte Primärerkenntnis ist pramāna,
vollkommene und ungetäuschte Erkenntnis, weil sie die Wahrnehmung
der Identität von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem beinhaltet.

1.3 Das letztendliche Sein der Objekte und der Person
Das Objekt der Verneinung
Obwohl die folgenden Ausführungen wie eine Fortsetzung der zunächst
sehr theoretischen Erklärungen zu der Erscheinungsweise der Objekte
und der Person anmuten, bahnt sich in diesem Abschnitt ein
Paradigmenwechsel an, der den Charakter dieser Niederschrift erheblich
verändert und alles anschließend Darzustellende wesentlich, d.h. „seinem

29 Ramesh S. Balsekar, Die Eine Wahrheit, S. 151f.
30 Fünf Pfade auf dem Weg der Bodhisattvas: Pfad der Ansammlung, Pfad der Vorbereitung, Pfad
des Sehens (direkte Wahrnehmung der letztlichen Wirklichkeit), Pfad der Meditation, Pfad des Nicht-mehr-Lernens.

Wesen nach“ verändert: der Wechsel von einer vermeintlich
rationalistischen zu einer ganzheitlichen Sicht des Seins.

Leerheit im engeren Sinn meint zunächst nur das Fehlen einer
Eigenschaft, das, von dem etwas »leer« ist; genau so, wie ein Glas leer von
Wasser sein kann. Der Terminus »Leerheit« im Sinne von »leer von« wird
in der buddhistischen Philosophie in unterschiedlich subtiler Weise
verwendet. Deshalb gilt es, mit geeigneten Methoden das „Objekt der
Verneinung“ fehlerfrei zu erkennen, „den Dieb der einwandfreien Erkenntnis“
zu fangen.

Will man als Objekt der Verneinung die Leerheit eines Objektes oder der
Person feststellen, wird mit Grundregeln der formalen Logik – auf
tibetisch düra genannt – alles ausgeschlossen bzw. verneint, was nicht
existiert. Schritt für Schritt werden – ausgehend vom Ganzen bis hin zu
seinen konstituierenden Teilen – die Eigenschaften des Untersuchungsobjektes
aufgedeckt und gegebenenfalls mit korrekten Mitteln der Logik
verneint, um über das, was widerlegt wird, die wahren Eigenschaften zu
verstehen.
„Um Selbstexistenz verneinen zu können, um uns von einem falschen
Verständnis »leer« zu machen, müssen wir zuerst klar verstehen, wie diese
falsche Natur ist, und dann können wir sie erst verneinen.“31

Der praktische Sinn einer solchen Untersuchung ist, am Ende
widerspruchsfrei festzustellen, dass allen Phänomenen jedwede Spur von
inhärenter Existenz fehlt und es keine Grundlage mehr dafür geben kann,
dass ein Greifen nach einer »Ich«-heit oder einer »Selbst«-heit entsteht.

Annäherungen an die Leerheit
Eine fundierte Darstellung der Bedeutungen von Leerheit und ihren
Aspekten findet sich bei Hans Wolfgang Schumann, einem Experten des
Mahāyāna-Buddhismus. 32

Schumann geht von dem Begriff »leer« aus, wie er im Theravāda, der
„Schule der Älteren“, verwendet wurde, die den Ausdruck »leer« in

31 Gonsar Rinpoche, Erscheinung und Leerheit, S.76f.
32 Zu den folgenden Zitaten vgl.: Hans Wolfgang Schumann, Mahāyāna-Buddhismus, S. 34ff.

Abgrenzung von Samsāra und Nirvāna nur auf den Bereich des Bedingten
bezog. Er nennt diesen ersten Aspekt von Leerheit eine subtraktive
Definition des Absoluten, die als „Absenz von Faktoren bezeichnet wird, die
der Erlösung im Wege stehen.“

Fortschreitend kommt er von der Bezeichnung »leer« zu dem Substantiv
»Leerheit«, wie sie in den Darlegungen des Mahāyāna verstanden wurde:
„Die Leerheit, shūnyatā, ist das Gemeinsame in beiden Sphären der
Wirklichkeit: Im Samsāra ist sie der Grund für die Vergänglichkeit, die die
Erlösung erforderlich, aber auch möglich macht, im Nirvāna ist sie die
unerschütterliche Erlösung selbst.“

Damit ist zwar immer noch doppelwertig einerseits ihre Vergänglichkeit
gemeint, „zugleich aber aufwertend impliziert, dass in ihr die (Non)-Entität
»Leerheit« vorhanden ist.“

Das zunächst negative Resultat der verneinenden Untersuchung
verändert sich in eine positive Definition, um die Funktion der Leerheit in
der Welt aufzuzeigen:
„In den Wesen und Dingen stellt Leerheit deren Wirklichkeit oder »Soheit« dar.
In den bedingten Dharmas, den Daseinsfaktoren, die durch ihre Fluktuation die
Welt bilden, in ihrer Vergänglichkeit aber zugleich die Möglichkeit ihrer
Aufhebung und der Erlösung in sich tragen, ist das Absolute sowohl die
»Dharmaheit«, dharmatā, wie auch die Basis der Naturgesetzlichkeit,
dharmadhātu.“

Eine solche Beschreibung der Leerheit könnte dazu verleiten, „das Absolute
doch als positiv Seiendes zu sehen. Die Prajnāpāramitā-Bücher machen deutlich,
dass diese Auffassung abzulehnen ist; das Absolute, das Nirvāna, die Essenz der
Gesetzlichkeit, die Soheit ist ein Nichtseiendes, abhāva.“

Diese Feststellung sei wichtig, weil andernfalls das Verständnis von
Leerheit als Kontinuum an die Stelle der vom Buddha geleugneten
»Seele« gesetzt werden könnte. Schließlich sei das Absolute im Mahāyāna
weniger ein ontologischer Begriff, der das Wesen der Welt definiert,
sondern ein pädagogischer, der den ins samsarische Leiden Verstrickten
das Glück der Leidfreiheit im Loslassen ahnen lässt.

S.H. der Dalai Lama hält die Leerheit dennoch nicht für eine Art absolute
Wirklichkeitssicht oder -sphäre, etwa im Sinne des Begriffs »Brahman« in
den indisch/vedischen Lehren mit ihren Vorstellungen einer zugrunde
liegenden absoluten Wirklichkeit, aus der die illusionäre Welt des
Mannigfaltigen aufsteigt.

Die Leerheit, „selbst leer ist von inhärentem Sein“ könne nur im
Zusammenhang mit einzelnen Dingen und Ereignissen gedacht werden:
„Da die Leerheit nur im Zusammenhang mit einzelnen Phänomenen, einzelnen
Dingen und Ereignissen, als letztendliche Wirklichkeit verstanden werden
kann, ist es zudem auch so, dass mit dem Ende der Existenz eines einzelnen
Phänomens auch die Leerheit dieses Phänomens zu existieren aufhört.“33

Die Vorstellung, Leerheit könnte in absoluter Dimension als zeitloses
ewiges Sein, sat aufgefasst werden, als universale Grundlage, die über
Raum und Zeit hinausgeht, ein Nicht-Sein ohne Eigenschaften zwar,
dennoch kein totes Nichts, sondern vielmehr die Fülle der pulsierenden
Potentialität, kann auch von Gonsar Rinpoche nicht angenommen
werden:
„So gibt es immer wieder Leute, die die Auffassung vertreten, dass Leerheit wie
der Ursprung von allem Existenten ist, wie etwas, aus dem alles entsteht. Das
ist eine vollständig falsche Auffassung von Leerheit, shūnyatā.“34

Wird an diesem Dreh- und Angelpunkt des Leerheitsbegriffs ein
unterschiedliches Verständnis erkennbar, oder ist es nur ein
Missverständnis in der Interpretation?
S.H. der Dalai Lama weist nämlich in derselben Schrift auch auf
Nagarjuna hin,
„wonach es für die Behauptung, dass das Geisteskontinuum eines Individuums
mit dem Erlangen des endgültigen Nirvāna sein Ende findet, keine Grundlage
gibt, weil nichts existiert, das die totale Beendigung des Geisteskontinuums
herbeiführen könnte. Das Geisteskontinuum selbst bleibt unendlich existent.“35

Schumann wiederum sieht in der Leerheit nicht nur das immanente
Absolute. Er will in einem weiteren Schritt aus der Durchdringung von
»Soheit« und Erscheinung darlegen, dass

33 Dalai Lama, Der buddhistische Weg zum Glück., S. 125.
34 Gonsar Rinpoche, Skripten Band 2, 21-10.
35 Dalai Lama, Der buddhistische Weg zum Glück, S. 53f.

„die Soheit der Dharmas die Soheit aller Dharmas und die Soheit der
Vollendeten, der Buddhas, ist, denn die Soheit ist nur diese eine. Bei der Soheit
gibt es keine Unterteilung. Nur eine einzige Soheit gibt es, nicht zwei und nicht
drei. Infolge ihrer Substanzlosigkeit ist die Soheit über Zählung, d.h. Vielheit,
erhaben.“36

Wenn das Absolute in jedem einzelnen Wesen und in den Buddhas
vorhanden ist und außerdem unteilbar ist, zwingt dies zu dem Schluss,
dass alle Wesen im Absoluten identisch sind:
„Zwischen mir und dir bestehen Unterschiede lediglich in dem, was an uns
karmisch bedingt ist, physisch, individuell und vergänglich, kurzum
samsārisch ist; im Wesenhaften gibt es keine Seele, keine Individualität,
sondern nur das allen gemeinsame Eine, die Leerheit.“37

Dieses »gemeinsame Eine«, das sich aus dem identischen Kern der Wesen
und des Göttlichen ergibt – „die Soheit aller Dharmas und die Soheit der
Vollendeten“, impliziert, dass diese Einheit sich nur im Göttlichen
Bewusstsein selbst und nicht außerhalb davon vollziehen kann. Zum
einen, weil das Göttliche Sein allesdurchdringend ist, und zum anderen,
weil es sich nicht vervielfältigt, um sich im Einzelnen zu begrenzen ? „nur
eine Soheit gibt es.“

Wer das Einssein aller Wesen versteht, findet in ahimsā, dem Inbegriff des
Nichtverletzens in der indischen Kultur, genauso wie in der christlichen
Nächstenliebe oder im Bodhisattva-Ideal der Mahāyāna Praktizierenden
seine natürliche Grundlage.

Das Absolute ist auch »Buddhaheit«, bereits vorhanden aber noch
verkannt:
„Mit dem Absoluten in ihm selbst ? als »Buddhaheit« ? besitzt jeder die
Qualität, die den Vollendeten ausmacht und ist im Kern ein Buddha. Was den
Buddha vom Weltling unterscheidet, ist, dass der Buddha sich seiner
Buddhanatur bewusst ist, während der Weltling von seiner Buddhanatur
nichts ahnt.“38

36 Hans Wolfgang Schumann, a.a.O., S. 40f.
37 Hans Wolfgang Schumann, a.a.O., S. 41.
38 Hans Wolfgang Schumann, a.a.O., S.42.

Wenn jeder von uns mit der Buddhanatur die Erlöstheit bereits besitzt,
kann sich in jedem pajnāpāramitā, die Weisheitsvollkommenheit,
realisieren. Leerheit wird damit zu einem Befreiungs- und Initiationsweg.

Das Herzsutra, ein Text zur Leerheitsphilosophie
Das Herzsutra, „Die Essenz des erhabenen Hinübergelangens ans jenseitige
Ufer der Weisheit“, ist ein eindrucksvolles Beispiel für einen
Prajnāpāramitā-Text, ein Sutra der Weisheitsvollkommenheit.39 Von
seiner Entstehung her ist es ein Mahāyāna-Sutra, wie sie zwischen dem 1.
Jahrhundert v. Chr. und dem 6. Jahrhundert n. Chr. in Erscheinung traten.
Ihr eigentlicher Ursprung geht aber, jedenfalls nach Auffassung des
Mahāyāna, direkt auf Lehrreden des historischen Buddha Shakyamuni
zurück:
„Der Buddha habe seine Lehre von Beginn an in voller Ausführlichkeit (das
heißt in Form des Mahāyāna) dargelegt, die frühen Mönche seien aber in ihrer
Hast nur imstande gewesen, den Anfangsteil der Lehre, nämlich das Kleine
Fahrzeug (Hīnayāna) zu verstehen. Erst jetzt seien sie für das Große Fahrzeug
reif und aufnahmebereit geworden.“40

Vom Inhalt her ist das „Herzsutra“ geprägt von zunächst rätselhaft
widersprüchlichen Aussagen wie
„Form ist leer, Leerheit ist Form.
Form ist nichts anderes als Leerheit.
Auch ist Leerheit nichts anderes als Form.“
Alle achtzehn Grundlagen41 der erscheinenden Form und des Geistes
werden als „leer, ohne Merkmal, ohne Entstehen, ohne Vergehen, weder befleckt
noch unbefleckt, weder abnehmend noch zunehmend“ qualifiziert.

Ja sogar Unwissenheit, Altern und Sterben, die vier Edlen Wahrheiten des
Leidens, Weisheit, Erlangen und Nicht-Erlangen werden diesen Leerheits-
Charakteristika zugeordnet.
„Es gibt deshalb für die Bodhisattvas nichts zu erreichen. Indem sie sich
fortwährend auf das Hinübergelangen ans jenseitige Ufer der Weisheit stützen,

39 Vgl. Anhang Nr. 1.
40 Hans Wolfgang Schumann, a.a.O., S. 25f.
41 Die sechs Sinnesorgane, die sechs Sinnesobjekte und die sechs Arten von Sinnesbewusstsein.

gibt es in ihrem Geist keine Verdunkelung und keine Furcht. Und indem sie
alle Irrtümer hinter sich lassen, gelangen sie über die Grenzen des Leidens
hinaus? und erreichen damit die höchste Erleuchtung, die vollendete
Buddhaschaft.

Vordergründig auffallend ist die Paradoxie, werden doch ansonsten
unbestrittene Grundaussagen der buddhistischen Lehren, ja sogar die
»vier Edlen Wahrheiten« selbst in Frage gestellt.
„Weil das Absolute sprachlich nicht zu erfassen und nicht mitteilbar ist“,
redeten sie, die Vertreter der Leerheitsphilosophie, „in scheinbar
widersprüchlichen Aussagen, ohne sich zu widersprechen, und kleideten ihre
Botschaft oft in das Gewand des Paradoxen.“42

Die besondere Art des Paradoxons ergibt sich durch die Anwendung der
doppelten oder zweistufigen Wahrheit:
„In konventioneller Wahrheit, wörtlich: in verhüllter Wahrheit, bewegt sich die
Umgangssprache, die von empirischen Dingen und ihrer Verschiedenheit
handelt. Die Wahrheit im höchsten Sinne hingegen spricht von der Einsheit
und Ununterschiedenheit aller Wesen und Dinge im Absoluten; sie ist die
Sprache der transzendenten Erkenntnis. Weisheit hat beide Wahrheiten
ganzheitlich zu erfassen.“43

Die fünf Skandhas und alle anderen im Herzsutra erwähnten Dharmas
unterliegen solcher Doppelwertigkeit der Leerheit, die es nahezu
unmöglich macht, sie eindeutig zu beschreiben.44

Zusammenfassend kann daher g esagt werden:

· Weil alle Wesen in ihrer letztendlichen Natur unzerstörbar und
zeitlos sind, miteinander wesenhaft identisch sind, im Grunde
bereits erlöst, sich dessen aber nicht bewusst sind, ist Nirvāna nicht

42 Hans Wolfgang Schumann, a.a.O., S. 52.
43 Hans Wolfgang Schumann, a.a.O., S. 54.
44 Deshalb wird in den Texten der buddhistischen Philosophie auf die sogenannten „Vier Arten des
Sichverlassens“ hingewiesen und geraten, sich auf die letztliche Bedeutung der Aussagen des Buddha zu verlassen: „Verlass dich nicht auf die Person, sondern auf das Dharma; verlass dich nicht auf die Worte, sondern auf die Bedeutung; verlass dich nicht auf die interpretative Bedeutung, sondern auf die definitive Bedeutung; verlass dich nicht auf das gewöhnliche Bewusstsein, sondern auf die direkte Wahrnehmung.“

Erlösung sondern Erlöstheit, eine absolute Wirklichkeit, die seit jeher
existiert.

Wenn die Zeit des Verstehens gekommen ist, wird klar:
„Nirvāna ist das Nicht-Mehr-Entstehen von Vorstellungen und das Erreichen
von Edlem Wissen durch Umkehr sowie das Zur-Ruhe-kommen der (von
Karman-Samen aufgepeitschten) Bewusstseinswellen auf dem Geistozean.“45 ?

Warum beschäftigt sich dieses Grundlagenkapitel so intensiv mit den
zugegeben »trockenen« Ausführungen griechischer und traditioneller
tibetischer Schulen der Philosophie und mit den frappierenden Thesen
moderner westlicher Wissenschaftler zum gleichen Thema?

Weil wir aus anerkannten Quellen vielfach und seit langem darauf
»gestoßen« werden, die Unterschiede zu erkennen zwischen der
korrekten Betrachtung der Phänomene der konventionellen
Erscheinungswelt, der subtilen Funktionsweise unserer
Wahrnehmungsprozesse und dem Erkennen einer letztendlichen
unveränderlichen, also ewigen Wahrheit »hinter den Dingen«. Dies
bereitet uns auf das bestmögliche Verstehen einer altehrwürdigen
Weisheitslehre, des »Advaita«, vor, wie sie in den anschließenden
Ausführungen zugrunde gelegt wird.

Kapitel 2
Die Welt als Traum

„Das Leben ist ein zusammenhängender,
anhaltender Traum, und wenn ich aufhöre zu träumen,
wird auch die Welt mit ihrer Schönheit,
ihrem Kummer und Schmerz, ihrer unvorstellbaren
Mannigfaltigkeit aufhören zu existieren.“
W. Somerset Maugham, Südseeromanze.

So überraschend die Aussagen, wie sie Schumann in den erstaunlichen
Facetten des Lankavatara-Sutra entdeckt, auch sein mögen, so richtig

45 Hans Wolfgang Schumann, a.a.O., S. 99.

spannend wurde es für mich erst, als ich auf die Bücher von Ramesh S.
Balsekar stieß und ihn etwas später in Bombay treffen konnte.

Zwar deutet sich schon im Lankavatara-Sutra eine Brücke vom Mahāyāna-
Buddhismus zum Advaita-Vedānta an, die konsequente Umsetzung hin zu
den radikalen Aussagen des Advaita findet sich erst bei Autoren wie
Ramesh Balsekar, Ramana Maharshi und Nisargadatta Maharaj.

Was ist „Advaita“?
Advaita, „das umgreifende Wahrnehmen des Göttlichen als des Einen-ohne-ein-
Zweites“46, ist von seinem Ursprung her Teil der Veden, steht am Ende der
Veden („Vedānta“) und ist in den Upanishaden bis in unsere Zeit überliefert
worden. Die Veden sind älteste indogermanische Schriften; ihr historisches
Entstehen ist schwer zu datieren. Jedenfalls sind sie älter als die Kultur
der Arier, die die Veden um etwa 1500 v. Chr. nach Indien brachten.
Später wurden die Upanishaden von Shankara (788-820 n.Chr.), dem
bedeutendsten klassischen Advaita-Lehrer Indiens, aufgegriffen und
kommentiert. Schließlich finden sie in den Darlegungen des Neo-Advaita
ihre zeitgemäße Formulierung.

Advaita ist ein spiritueller Weg, der mit dvaita, der dualen Sicht der Welt,
beginnt, sich über vishishtadvaita, einem bedingten Akzeptieren von
Advaita, bis zum völligen Verständnis von »ā-dvaita«, „nicht-zwei“,
entwickelt.

Von daher ist »Advaita in Reinkultur« gewöhnungsbedürftig. So
kompromisslos, wie einige Ramesh S. Balsekar annehmen können, so
heftig wird er von anderen abgelehnt. An ihm scheiden sich die Geister!

Ramesh S. Balsekar ? „Wen kümmert?s“
In welchen Kernpunkten unterscheiden sich die Konzepte von Ramesh
Balsekar von dem, was bisher zur Welt und den Wesen in der Welt
ausgesagt wurde – einmal abgesehen davon, dass er seine Vorstellungen
generell mit großer Kompromisslosigkeit vorgetragen hat?

46 Alvin Drucker , (Hrsg.), Sathya Sai Baba, Bhagavad Gītā, S. 72.

Ein Schlüssel zum Verständnis seiner Überzeugungen findet sich in dem
Zitat, das er selbst zur Beschreibung seines Lebens im Vorwort seines
Buches „Die Lehre erleben“ anführte:
„Diese Welt, die erscheint, wenn wir bewusst sind, hat keine wirkliche
Substanz, sondern sie ist lediglich wie ein Traum, der im Tiefschlaf
verschwindet.“
Und als Pendant fügt er hinzu:
„Das menschliche Individuum, als ein Teil dieses Traumes, kann keinen freien
Willen besitzen, um einen anderen Teil dieses Traumes zu beeinflussen. Alles
wird in der Art und Weise geschehen, wie es geschehen soll.“47

Diese an sich schon eindrucksvollen Feststellungen verstärkte er noch
einmal in einer Aussage, die, wie er an anderer Stelle erwähnt, anlässlich
seiner Übersetzertätigkeit für seinen langjährigen Lehrer Nisargadatta
Maharaj ohne sein willentliches Handeln aus ihm «herausgeflossen» sei:
„Die Totalität der Manifestation ist eine Erscheinung im Bewusstsein wie ein
Traum. Ihr Ablauf ist ein unpersönlicher und sich selbst erzeugender Prozess
in der Phänomenalität. Die Milliarden von Geisteswesen sind lediglich die
Instrumente – geträumte Charaktere ohne freien Willen, durch die dieser
unpersönliche Prozess abläuft. Das klare Erfassen dieser Wahrheit bedeutet die
Belanglosigkeit des menschlichen Individuums als ein Suchender und damit
Erleuchtung.“48

Die Vorstellung, die Welt als Traum und den Träumer als Teil des
Traumes aufzufassen, erfordert ab hier die Abkehr von dem Verständnis,
das Individuum sei das träumende Subjekt!
Denn, wenn die Erscheinungswelt wie ein Film auf der Leinwand des
reinen Bewusstseins abläuft, dann braucht es »Einen«, der das Drehbuch
schreibt, den Film produziert und in diesem Film Regie führt.

47 Ramesh S. Balsekar, Die Lehre erleben, S. 10.
48 Ramesh S. Balsekar, Erleuchtende Briefe, S. 40.

Noumenon, die reine Subjektivität
Hier findet ein weiterer Kernpunkt seiner Advaita-Aussagen einen ganz
spezifischen Ausdruck:

Noumenon, die reine Subjektivität, die sich als »Bewusstsein in Ruhe« ihrer
Existenz nicht gewahr ist, manifestiert sich, zusammen mit
empfindungsfähigen und nicht-empfindungsfähigen Wesen: der Traum beginnt.
Mit dem spontanen Aufsteigen des Bewusstseins entsteht ein Gewahrsein von
Anwesenheit: „Ich bin“. Gleichzeitig wird das Auftauchen der phänomenalen
Manifestation im Bewusstsein verursacht, einhergehend mit einer Empfindung
von Dualität: die Ganzheit wird aufgespaltet in die Dualität eines »Pseudo-
Subjektes« und seiner beobachteten Objekte.
Die Objektivierung der Dualität erfordert die Erschaffung des Doppel-
Konzeptes »Raum« und »Zeit«: Raum, in dem das Volumen der Objekte
ausgedehnt werden kann, und Zeit, in der die phänomenalen Bilder, die im
Raum ausgedehnt wurden, auch wahrgenommen, erkannt und bezüglich der
Dauer ihrer Existenz gemessen werden können.
In Bewegung gesetzt, identifiziert sich das Bewusstsein mit dem Pseudo-
Subjekt; der »Mind-Intellekt« entsteht als Ego, die Sinnesorgane und deren
Objekte erschaffen Erfahrungen, annehmbar oder nicht, Freude und Leid und
all die anderen miteinander verbundenen Gegensätze der Manifestation. Aus
der Dualität wird Dualismus.49

„Manifestierte Existenz ist phänomenal und die Phänomenalität als sinnlich
wahrnehmbare, zeitgebundene Erscheinung ist eine Phantasie, ein Traum, eine
Halluzination – und demzufolge unwahr.
Unmanifestierte Existenz ist absolut, zeitlos, raumlos, sich ihrer Existenz
nicht gewahr, sinnlich nicht wahrnehmbar, ewig – und demzufolge wahr.
Wer sagt dies? Natürlich das Bewusstsein, welches versucht, sich selbst zu
erkennen, doch keinen Erfolg dabei hat, da das Erkennen nicht das Erkennen
selbst erkenn en kann. Der Suchende ist das Gesuchte.“50

Konsequent fügte Ramesh Balsekar hinzu:
„Es ist unmöglich, die Wahrheit als Objekt zu suchen, noch kann die Wahrheit
beschrieben werden. Man kann sie andeuten oder darauf hinweisen, aber die
Wahrheit kann nicht in Worten ausgedrückt werden, da sie nicht in Begriffen
denkbar oder vorstellbar ist. Was denkbar oder vorstellbar ist, wird immer ein
Objekt sein und die Wahrheit ist kein Objekt.

49 Zusammenfassend zitiert nach: Ramesh S. Balsekar, Die Lehre erleben, S. 11ff.
50 Ramesh S. Balsekar, Pointers, Wegweisende Gespräche mit Sri Nisargadatta Maharaj, S. 227.

Jeder Versuch, einen Beweis für die Wahrheit zu finden, muss eine Trennung
des Verstandes in Subjekt und Objekt nach sich ziehen, und daher kann die
Antwort niemals die Wahrheit sein, da die Wahrheit nichts Objektives an sich
hat. Sie ist ihrem Wesen nach reine Subjektivität.“51

Hier macht üblicherweise das »Pseudo-Subjekt« einen verhängnisvollen
Fehler, indem es die so genannte „doppelte Ursünde“ begeht:
„Bei dem Versuch, den Willen Gottes herauszufinden, bemächtigt sich das
erschaffene Objekt der Subjektivität des reinen Subjekts. Doch dabei ist noch
viel schlimmer, dass es die reine Subjektivität in ein Objekt verwandelt, das
dieses Pseudo-Subjekt jetzt erkennen will.“52
„Wenn Sie herausfinden wollen, warum Gott tut, was er tut, dann will doch
tatsächlich ein erschaffenes Objekt den Willen des erschaffenden Subjektes
herausfinden. Wie könnte das sein?“53

Wie könnte der Schatten, die Widerspiegelung, sich anmaßen, das Wesen
dessen zu erkennen, was den Schatten bzw. die Widerspiegelung erzeugt?
Es bleibt nur einzusehen und anzunehmen, dass die Wahrheit selbst
unfassbar und unbeschreibbar ist.

Dennoch können Konzepte über die Wahrheit wirkungsvoll helfen, die
getäuschte Sicht zu überwinden: So, wie ein Dorn benutzt wird, um einen
anderen Dorn im Fuß zu entfernen, so kann das angemessene Konzept
über die Wahrheit, der »zweite Dorn«, helfen, die Unwissenheit, den
»ersten Dorn«, zu entfernen. Anschließend wirft man vernünftigerweise
beide Dorne fort.

Sathya Sai Baba – „Das Göttliche Siegel“
Zunächst dachte ich, solche Aussagen wie die vorangegangenen stünden
im Widerspruch zu dem, was Sai Baba in seinen häufigen Ansprachen
vermittelt. Ich übersah hierbei, dass er – je nach der Zusammensetzung
und Aufnahmefähigkeit seiner Zuhörer – auf unterschiedlichen Ebenen
des Verstehens spricht. Hierzu sagte er einmal:

51 Ramesh S. Balsekar, Pointers, a.a.O., S. 39.
52 Ramesh S. Balsekar, Und so geschah es, dass.., S.19.
53 Ramesh S. Balsekar, Wen kümmert?s, S. 105.

„Die scheinbaren Widersprüche müssen so interpretiert werden, dass sie eine
Begleiterscheinung bei der Notwendigkeit sind, Menschen von
unterschiedlichem intellektuellem, moralischem, ökonomischem und sozialem
Herkommen zu inspirieren.“

Zu anderer Zeit und Gelegenheit – so konnte ich nach sorgfältigem
Beobachten seiner Aussagen feststellen – äußert Sai Baba tatsächlich
nichts anderes, als das, was – in sprachlich strikterer Weise – auch Ramesh
Balsekar sagte.

Diese Übereinstimmung fällt besonders bei den Aussagen zur Bedeutung
von Brahman auf, dem Kernstück aller Vedānta-Schriften und -Lehren:
„Brahman, das Höchste Bewusste Sein, ist beides: materielle Grundlage und
bewirkende Ursache des Kosmos, der dem Zyklus von Evolution und Involution
unterworfen ist“, und
„Brahman ist das Eine und einzige, und daher existiert nichts im Kosmos, das
nicht Brahman, das unbewusst wäre. Nichts ist ohne Bewusstsein. Brahman
ist nicht nur Sein, sat, sondern auch Bewusstes Sein, cit.“54

Einmal akzeptiert, dass Brahman als bewusstes Sein, cit, die einzige und
den gesamten Kosmos durchdringende Kraft ist, werden die Aussagen
Sai Babas zum Einssein von Gott und Mensch unmittelbar annehmbar:
„Ihr seid alles, und alles in der Schöpfung befindet sich in euch.
Ihr seid Brahma, Vishnu und Maheshvara und jeder vorstellbare Name und
jede vorstellbare Form, die der Göttlichkeit zugeschrieben wird.
Ihr seid alle Verkörperungen des Göttlichen. Gott hat all diese verschiedenen
Formen angenommen. Ihr und Gott seid eins. Ihr seid nicht verschieden von
Gott. Gott ist in euch. Ihr beide seid eins.“

Nur Māyāshakti, die Kraft der Täuschung, inszeniert die Illusionen eines
Lebens »da draußen«, mit uns als vermeintlich autonomen Akteuren, und
lässt uns nur allzu leicht die wahre Natur des Göttlichen Traumes
vergessen:
„Alle äußeren Formen und Namen sind wie flüchtige Träume. Sie sind nicht real.
Alle Beziehungen, die wir mit der Objektwelt verbinden, sind illusorisch.

54 Sathya Sai Baba, Quellen der Weisheit, S. 55.

Alles, was wir in der äußeren Welt erfahren, ist nur Reaktion, Widerspiegelung und
Widerhall des inneren Seins. Außerhalb davon existiert nichts.“ 55

Wer, wenn nicht Sai Baba, könnte uns eindrucksvoller offenlegen:
„Die Schöpfung muss als kosmische Bühne angesehen werden. Gott ist der
Regisseur und Schauspieler in diesem Schauspiel. Er weist den Charakteren in
diesem Spiel alle Rollen zu. Alle Geschöpfe der Welt sind Erscheinungen des
Göttlichen. Das Gute und das Böse in der Welt sind Ausdruck des Göttlichen
Bewusstseins. Die Menschheit sollte sich durch diese Darstellungen nicht
irreführen lassen. Hinter all den verschiedenen Handlungen der Akteure ist der
Göttliche Regisseur am Werk. Man sollte sich klarmachen, dass, obwohl Namen
und Formen variieren mögen, Sprachen und Nationalitäten verschieden sein
mögen, die menschliche Rasse eins ist in dieser Göttlichen Essenz.“56

Sind das nicht eindrucksvolle Hinweise darauf, dass Sai Baba und
Ramesh Balsekar die gleiche »Advaita-Sprache« sprechen?

Was ist neu?
Was ist nun das Besondere und Neue, das mit der Philosophie des
Advaita über die tiefgründigen Analysen des Mahāyāna-Buddhismus zur
Person und zum Wesen der Phänomene hinausgeht?

Im Buddhismus steht die »Wirk«-lichkeit, als Welt der Wirkungen, im
Vordergrund, wie sie von der wahrnehmenden Person in richtiger Weise
und auf der Grundlage ihrer Aggregate der Form und des Bewusstseins
erfahren werden sollte. Während das letztliche, wahre Sein aller
Phänomene, auch der Person, die Leerheit von inhärenter Existenz ist,
manifestiert sich bedingtes Erscheinen in Form von Bewusstsein, das klar
und erkennend ist. Solche Erfahrungen stellen sich im Buddhismus in
einer »Sphäre« dar, in der Gott, außer als form- und eigenschaftslose
Quelle, als dharmadhātu57, keine Rolle spielt.

55 Alle Zitate aus: Sathya Sai Baba, Ansprache vom 25. Oktober 2004.
56 Sathya Sai Baba, „Thought of the Day“, 16. Oktober 2003.
57 Dharmadhātu, „Basis der (Natur-)Gesetzlichkeit“; als vorgestellte Sphäre des dharmakāya, „der die
allen Buddhas gemeinsame, ihr Wesen ausmachende, dualitätsfreie, zugleich immanente und transzendente
Wahrheit und Wirklichkeit ist“; vgl. Schumann, a.a.O., S.39 und 139.

Dieses Paradigma wechselt im Advaita in radikaler Form:
Alles, was über die Identitätslosigkeit der Person und der Welt im
Buddhismus gesagt wird, bleibt gültig. Nur geht es hier nicht mehr
darum, mehr oder weniger spitzfindig zu analysieren, ob »da draußen«
etwas ist oder nicht, sondern darum, einzusehen und anzunehmen, dass
die Person selbst – und zusammen mit ihr die von ihr geträumte Welt –
eine Widerspiegelung des Göttlichen in einem universellen Schauspiel ist,
in dem sich das Göttliche aus seinem Ruhezustand in die Bewegung
ausdehnt,
„I have separated Myself from Myself in order to experience Myself“,
in dieser Ausdehnung alles durchdringt und damit alles Geschehen in
dieses göttliche Bewusstsein einschließt:
„Der Traum einer phänomenalen Manifestation steigt in der phänomenalen
Leere auf, weil diese Leere kein totes Nichts ist, sondern vielmehr die Fülle der
pulsierenden Potentialität.“58
„Es gibt im Universum nichts anderes als das Selbst. Alle Dinge, die ihr in der
phänomenalen Welt seht, sind lediglich Widerspiegelungen des Einen Selbst.“59

Dieser totale Wandel in der Perspektive – das Göttliche Subjekt, das mit
seinen Objekten, den im Traum erscheinenden Personen, „Līlā“, das
Göttliche Spiel, spielt – wird von uns aufgrund unserer getäuschten Sicht,
„Māyā“, nicht verstanden und schafft unsere existentiellen
Fehleinschätzungen:
– Es schafft den Fehler, dass wir uns als »Quasi-Subjekte« als die
eigentlichen Handelnden in diesem Lebensdrama sehen,
und es schafft den Fehler, dass wir – in unserer Unfähigkeit und
Unzufriedenheit, mit den Bedingungen dieses Traumlebens fertig zu
werden – aktiv nach Erlösung suchen, was wir nicht bräuchten, wenn
wir die wahren Zusammenhänge des göttlichen „Līlā“ verstehen und
annehmen könnten.

58 Ramesh S. Balsekar, Die Eine Wahrheit, S. 202.
59 Sathya Sai Baba, Summer Showers in Brindavan 1990, Prasanthi Nilayam 2005, S.120.

Kapitel 3
Fragen, die uns nicht loslassen
„Verstehen ist alles.“

Wie ist das mit »Gott«?
Wie frei ist unser Wille?
Was wird wiedergeboren?
Wie kann Leiden beendet werden?

Diese und ähnliche Fragen werden in Gesprächen mit Advaita-Meistern
häufig gestellt.
Sie deuten auf emotionale Probleme hin, die radikalen Vorstellungen zur
Natur der Welt und zur wahrnehmenden Person vorbehaltlos
anzunehmen.

Auch wenn wir uns – zunächst nur mit dem Kopf – darauf einlassen, uns
als Person nur über die ihr zugrundeliegenden Aggregate der Form und
des Geistes zu erfahren, und akzeptieren können, dass auch der Geist –
selbst ohne inhärente Substanz – nur eine Abfolge von vielen kurzen, von
vorangegangenen geistigen Impulsen geprägten Augenblicken ist, darf
dennoch nicht verkannt und vernachlässigt werden, dass wir uns in der
Welt mit ihren Problemen wirkungsvoll auseinandersetzen müssen.

Und dennoch ist eine »spirituelle Emanzipation« für alle Sucher auf dem
Weg unumgänglich, um die richtige Sicht auf die Phänomene dieser Welt
und die Korrektur unserer »Ich«-Erfahrungen anzunehmen und zu einer
angemessenen Gotteserfahrung zu kommen.

Dieser Weg – vom so genannten »kleinen Ich« mit seinen getäuschten
Wahrnehmungen zur Verwirklichung unseres wahren Wesens, zum
»großen ICH« – ist weit und oftmals schmerzhaft. Aber mit den
Grundaussagen der buddhistischen Sicht und mit den Erklärungen des
Advaita verfügen wir über hilfreiche Werkzeuge, mittels derer wir
zielgerichtet zu sinnvollen Antworten gelangen können und unser
unbefriedigendes Leiden an den Problemen dieser Welt überwinden
können.

3.1 Eine heikle Frage: Wie ist das mit »Gott«?
Von alters her hat sich der Mensch Bilder von Gott und seiner Schöpfung
gemacht. Im Kopf die antiken Vorstellungen eines geozentrischen
Weltsystems – mit der Erde und mit sich selbst als Mittelpunkt – stand er
vor der schier unermesslichen Weite des Himmels über ihm. Aus diesem
Blickwinkel von Mensch und Universum bildeten sich in ganz natürlicher
Weise Bilder von der Welt und dem Universum einerseits und vom
„Menschen hier“ und einem „Schöpfergott da oben“ andererseits. Mögen
sich die vorgestellten Bilder nach Kulturkreis und Zeitalter
unterschiedlich entwickelt haben, die zugrundeliegenden Konzepte vom
Schöpfer und seinen Geschöpfen finden sich in allen Schöpfungsmythen
in ähnlicher Form.

Das theistische Gottesbild
Das geozentrische Weltbild, das erst im 16. Jahrhundert durch das
heliozentrische ersetzt wurde und den Erdenmenschen aus seiner
zentralen Sicht des Universums »entfernte«, passte vorzüglich in
alttestamentarische Vorstellungen von Schöpfung und Schöpfergott, von
Sündenfall und Bestrafung durch Vertreibung aus dem Paradies und
Erlösung durch Gottes Sohn, der durch sein Leben und Wirken, ganz
besonders durch seinen Sühnetod, die in Sünde gefallene Menschheit zu
Gott zurückführt.

Aus der biblischen Schöpfungsaussage,
„Gott schuf also den Menschen als sein Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn“,
entwickelt sich in der christlichen Theologie die umgekehrte Folgerung,
Gott müsse demnach auch seinem Abbild ähnlich sein. Diese vorgestellte
Ähnlichkeit zwischen Gott und Mensch machte es erst möglich, Gott als
Vaterfigur zu verstehen, der seine Geschöpfe liebt, wo notwendig bestraft
und ihnen in seiner Allgüte ihre Sünden vergibt.

Die Problematik mit einem in dieser Weise verstandenen persönlichen
Gott ist nur, dass man von ihm als »liebem« Gott und allmächtigem
Ingenieur doch eine Welt ohne Fehler erwarten könnte. Wie kann man die
Existenz des Übels in der Welt erklären, wenn es nur einen einzigen guten
Gott gibt? Entweder er ist allmächtig, dann müsste er diese Schöpfung vor
Leid und Katastrophen schützen, oder er ist es nicht. Wenn er aber in
seiner Allmacht könnte und nicht wollte, wäre er nicht allgütig.

Mit diesem Versuch einer Rechtfertigung Gottes, der „Theodizee“, hat sich
der berühmte Philosoph Leibniz (1646-1716) «herumgeschlagen», ohne eine
eingängige Antwort zu finden.

Aus der Dominanz der theistischen Interpretation, wonach Gott als Gipfel
der Schöpfung über allem thront und von außen das Schicksal der Welt
bestimmt, installiert sich eine tiefe Kluft zwischen Gott und seinen
Geschöpfen,
„Die Welt wird zum Jammertal, zum Tal der Tränen, dem es über die erlösende
Brücke des Kreuzes Christi zu entfliehen gilt. Dass Jesus im Christentum in
diesem Sinne als Erlöser verstanden wurde, ist eine konsequente Folge des ihm
zugrunde liegenden theistischen Denkens“60,
die zur Verdrängung der in der christlichen Theologie durchaus auch
vorhandenen mystischen Elemente führt.

Mystik im Christentum: Einssein mit Gott
In der Erkenntnis, dass es keine trennende Kluft zwischen Gott und Welt
gibt, sondern dass die Welt nichts anderes ist als die Erscheinung des
Göttlichen, und dass Erlösung dementsprechend nicht als Überbrückung
dieser Kluft zu verstehen ist, sondern als Erwachen zum wahren Wesen,
liegt für Willigis Jäger die eigentliche Bedeutung Jesu:
„Nicht im Sühnetod am Kreuz für eine sündhafte Menschheit, sondern darin,
dass er uns einen Weg in die Erfahrung der Einheit mit dem göttlichen
Urprinzip wies.“61

Deutliche Hinweise auf ein solches Erwachen zum wahren Wesen, zur
schrittweisen Aufhebung der vermeintlichen Kluft zwischen Gott und
Jesus, stehen im Neuen Testament:
Präsentiert sich Jesus zunächst in der dualen Distanz zu Gott als dessen
Bote – „meine Lehre ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat“,
bezeichnet er sich an anderer Stelle als Sohn Gottes – „dies ist mein lieber

60 Willigis Jäger, Die Welle ist das Meer, S. 17.
61 Willigis Jäger, Die Welle ist das Meer, S. 19f.

Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe?, um schließlich seine und unsere
Einheit mit Gott zu offenbaren,
„Ich und der Vater sind eins“,
„Und ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, dass sie
eins seien, gleichwie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, auf dass sie
vollkommen eins seien“ 62,
eine Einheit von Gott und Mensch, die ewig und unzerstörbar ist63, und –
wie Willigis Jäger formuliert –
„eine Erfahrung des Einsseins von Form und Leerheit, das Erleben der Einheit
der eigenen Identität mit der ersten Wirklichkeit.“64

Solches Einssein mit Gott findet interessante, bei theistisch orientierten
Theologen jedoch umstrittene Parallelen im sogenannten »Thomas-
Evangelium«, genauer bezeichnet als »Thomas-Sammlung von Jesus-
Worten«65:
Jesus habe demnach seinem Jünger Didymus Judas Thomas als besonders
erwähltem Jünger „geheime Worte“ offenbart, die für das damalige
allgemeine Verstehen derart brisant waren, dass er den Inhalt, zum
Beispiel jener „drei Worte“, nicht einmal seinen Gefährten mitteilen
konnte. In diesen Jesusworten wird in anschaulicher Sprache das
ursprüngliche Einssein mit Gott – „Selig der, der war, bevor er wurde“, die
vermeintliche Trennung von Gott – „An dem Tag, als ihr eins gewesen seid,
seid ihr zwei geworden“ und die Wiedervereinigung mit Gott aufgezeigt:
„Selig die Einsamen und die Erwählten, denn ihr werdet das Königreich finden,
denn ihr seid aus ihm gekommen, und ihr werdet dahin zurückkehren.“ Und
Jesus sprach: „Wenn sie zu euch sagen: ‚Woher kommt ihr?‘, dann sagt zu
ihnen: ‚Wir kommen aus dem Licht, daher, wo das Licht aus sich selbst heraus
geboren ist.“ „66

62 Neues Testament, Joh. 7.16, Matth. 17.5, Joh. 10.30, 17.22f.
63 Joh. 8.58: „Ehe denn Abraham ward, bin ich.“
64 Willigis Jäger, Die Welle ist das Meer, S. 33.
65 Von dessen ursprünglich griechisch geschriebenem Text existieren nur Fragmente und es ist vollständig nur in einer koptischen Übersetzung bekannt, die erst 1945 in der Nähe eines ägyptischen Klosters bei Nag Hammadi gefunden wurde. Diese Übersetzung ähnelt den Fragmenten des griechischen Textes, ist mit diesem aber nicht völlig identisch; vgl. auch Anhang Nr. 3.
66 Thomas Evangelium, Logion 19, 11, 49 und 50.

Vorstellungen von Gott und letztliche Göttlichkeit
Sowohl in der buddhistischen als auch in der hinduistisch/vedischen
Tradition gibt es eine Vielzahl dualer Gottesvorstellungen:

Im Buddhismus sind es die verschiedenen Buddhaaspekte, wie die des
Avalokiteshvara, des Buddhas des Mitgefühls, Manjushri, des
Weisheitsaspektes, oder die vielfältig vorgestellten Formen von Tara, von
der Göttin als Beschützerin in weltlichen Angelegenheiten bis hin zur
vorgestellten Verkörperung der Absoluten Wahrheit.

In den Traditionen des Hinduismus sind es vor allem die Vorstellungen
von Brahma, dem Schöpferaspekt Gottes, von Vishnu als Erhalter des
Universums und von Shiva – namentlich identisch mit Ishvara oder
Maheshvara, der als Zerstörer der getäuschten Sicht der Welt verstanden
wird.

Alle Vorstellungen von Gott sind jedoch insoweit falsch, wie sie sich auf
äußere Gottheiten beziehen, die aus sich heraus in Aktion treten.

Konzepte von Gott erschafft sich der Mensch aus dem Bewusstsein seiner
Hilflosigkeit und gibt diesen Konzepten Attribute, wie allmächtig,
allwissend, grenzenlos barmherzig. Es ist der menschliche Intellekt, der
Gott das Attribut grenzenlos barmherzig verleiht und ihn dann fragt: „Oh
Gott, warum hast Du Krankheit und Armut und all die Kriege erschaffen?“ Und,
hat er erst einmal dieses mentale Bild von Gott in reiner Barmherzigkeit
geschaffen, dann betet er ihn an und erwartet von ihm nicht nur, „dass er
ihn erhört, sondern auch, dass seine Gebete so erhört werden, wie er sich das
vorstellt.“67

Die buddhistische Sicht vorgestellter Gottheiten beschreibt Sogyal
Rinpoche so:
„Wenn wir sagen, dass die Gottheiten die Kristallisation der verschiedenen
Aspekte des Weisheitsgeistes der Buddhas sind, dann bedeutet das, sie sind
Metaphern, die die unendlichen Energien und Qualitäten des Weisheitsgeistes
der Buddhas personalisieren oder einfangen. Sie befähigen den Praktizierenden,
sich zu ihnen in Beziehung zu setzen, indem er sie in Form von Gottheiten
personifiziert, sie erkennt und ihre Namen anruft.

67 Ramesh S. Balsekar, Und so geschah es.., S. 25.

Trotzdem erkennt der Praktizierende durch sein Training, dass der nicht-duale
Geist, der die Gottheit wahrnimmt, und die Gottheit selbst nicht verschieden
sind, sondern essentiell dasselbe.“68

Ähnlich sieht das der indische Advaita-Meister Ramana Maharshi:
„Ishvara, der persönliche Gott, der Schöpfer des Universums, existiert nur vom
relativen Standpunkt derer aus, die die Wahrheit noch nicht erfasst haben und
an die Wirklichkeit individueller Seelen glauben. Individualität ist die
Täuschung, dass wir nicht mit Gott identisch sind. Wenn diese Täuschung
aufhört, bleibt nur Gott zurück.“
und, auf die Perspektive des spirituellen Weges bezogen, setzt er fort:
„Der persönliche Gott ist die letzte der unwirklichen Formen, die verschwindet.
Gott nimmt jede Form an, die ein Verehrer sich in der Meditation immer
wieder vorstellt. Obgleich er auf diese Weise endlose Namen annimmt, ist nur
das wirkliche, formlose Bewusstsein Gott.“69
„Bedenke“, sagt Krishna zu Arjuna, „das Verehren der mit einer Form, einer
Gestalt verknüpften Gottheit wird nur eine Zeit lang von Nutzen sein. Jene,
deren höchstes Ziel vollständige Befreiung ist, müssen früher oder später die
Bindung an den Körper aufgeben. Ohne diese Loslösung kann man die Atman-
Stufe der spirituellen Entwicklung nicht erreichen.“70

Bilder von Gott mögen in den Anfangsstadien der spirituellen Suche
notwendig und hilfreich sein; sie können als wirkungsvoller
Ausgangspunkt für den Geist die Aktualisierung einer inneren Kraft
bewirken, das Göttliche Selbst in uns zu erkennen und erfahrbar zu
machen, und ein archaisches Wissen wieder zugänglich machen, das durch
Täuschung verdeckt ist und durch solche Bilder wieder freigelegt wird.
„Brahma, Vishnu und Maheshvara existieren nicht real. Sie sind nur
vorgestellte Formen. Was wirklich in dieser Welt existiert ist mānavatva, das
Menschsein. Wenn ihr diese (Formen vorgestellter Gottheiten) nach und nach
aufgebt, werdet ihr das Formlose – ‚the Divinity within‘ – erfahren.“71

68 Sogyal Rinpoche, Im Spiegel des Todes, S. 32.
69 Ramana Maharshi, Sei, was du bist!, S. 245, 249f.
70 Bhagavad Gita, zitiert nach Jack Hawley (Hrsg.), Bhagavad Gita, S.158.
71 Sathya Sai Baba, Ansprache vom 25. Oktober 2004.

Denn auf der höchsten Ebene der Gotteserfahrung sind die Begriffe
»Gott« und »Selbst« identisch mit der immanenten Wirklichkeit, die
Ramana Maharshi wie folgt beschreibt:
„Gott ist immanent und formlos; er ist reines Sein und reines Bewusstsein. In
ihm und durch seine Kraft manifestiert sich etwas, aber er ist nicht der
Schöpfer. Gott handelt nicht, er ist einfach. Er hat weder Willen noch Wünsche.
Individualität ist die Täuschung, dass wir nicht mit Gott identisch sind. Wenn
diese Täuschung aufhört, bleibt nur Gott zurück.“72
„Hier erfährt der Mensch das »reine Sein«, den Ursprung, aus dem alles
kommt. Es ist die Stufe, die allem, was entstehen kann, voraus liegt. Darum ist
es auch kein Sein, das Substanz wäre.“73
„Zwischen der erschaffenen Materie und dem Schöpfer, zwischen dem
Lebewesen und dem Lebensprinzip selbst besteht kein grundlegender
Unterschied. Das Lebensprinzip nimmt einen Körper an und erscheint als
Lebewesen; und von diesem Lebewesen geht wiederum das Lebensprinzip aus.
Es ist die körperlose Wirklichkeit, das Prinzip, das im Körper wirksam, aber
nicht Teil des Körpers ist“, sagt Sai Baba74 und fügt hinzu:
„Im Einssein ? ekam sat – seid ihr wahrlich eins mit dem Göttlichen, – aham
brahmāsmi ? eins mit der göttlichen Weisheit – prajnānam brahma ? und
folglich eins mit allen Wesen – tat tvam asi ? Das bist du.“
„Solange ihr aber glaubt, es gäbe etwas von euch Getrenntes, bleibt ihr in
Unwissenheit versunken. Nichts in diesem Universum unterscheidet sich von
euch oder steht über euch.“

Aus dieser letztlichen Einheit zwischen Lebewesen und Lebensprinzip
kann durchaus verstanden werden, dass wir im wahren Kern unseres
Wesens Brahma, Vishnu und Maheshvara und jeder vorstellbare Name und
jede vorstellbare Form sind, die der Göttlichkeit zugeschrieben wird. Aber:
„Solange ihr Körper, Sinne und Geist habt75, ist es sehr schwer, die Einheit des
Selbst zu erfahren“, fährt Sai Baba fort.76

72 Ramana Maharshi, a.a.O., S. 244f.
73 Willigis Jäger, Die Welle ist das Meer., S. 33.
74 Sathya Sai Baba, Quellen der Weisheit, S 43.
75 Gemeint ist wohl: solange ihr euch mit dieser Erfahrungsebene identifiziert?
76 Sathya Sai Baba, Sommersegen in Brindavan, Band 7, S. 88f.

„Verehrer der gestaltlosen Gottheit haben einen steileren Aufstieg“, sagt
Krishna zu Arjuna. „Einem in physischer Gestalt existierenden Menschen
fällt es äußerst schwer, das Gestaltlose wirklich zu begreifen. Gewöhnliche
Menschen identifizieren sich mit ihrem eigenen Körper und müssen sich Gott
als gleichfalls in irgendeiner Art Körper existierend vorstellen. Um den
gestaltlosen Gott innig lieben zu können, muss man von Körperbewusstsein frei
sein, und dieser Zustand ist nicht von vielen erreichbar.“77

Gott ist kein Objekt!
„Solange Sie sich Gott im Sinne von Begriffen und Konzepten vorstellen, haben
Sie die Wirklichkeit Gottes noch nicht enthüllt. Gott transzendiert all unsere
Begriffe. Gott ist weder Person noch Nicht-Person.“78
„Jeder beschreibt Gott entsprechend der eigenen Vorstellung und gibt ihm
einen bestimmten Namen und eine bestimmte Form. Aber der namenlose und
formlose Gott ist allgegenwärtig und durchdringt alles. Weder können wir ihn
beschreiben, noch kann der Geist ihn erfassen. Gott ist unermesslich.“79

Der eigenschaftslose Gott, Brahman, das Eine ohne ein Zweites, das
Göttliche in seiner absoluten Essenz, reines Sein und reines Bewusstsein –
– oder wie auch immer man das Unbeschreibbare umschreiben möchte –
ist der Erkenntnis des Menschen entzogen. Es kann nur angedeutet
werden, was es nicht ist ?“neti, neti“, nicht dies, nicht das. Doch muss auch
ein solcher Definitionsversuch des Absoluten letztlich scheitern, weil das
Absolute nicht Nichts ist, sondern weil es ebenso die Fülle aller
Erscheinungsformen potentiell in sich trägt.80
„Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der
Wahrheit anbeten“, wird uns im Neuen Testament offenbart.81

In dem Maße aber, wie wir Gott konzeptualisieren und ihm als liebendem
Gott ? „denn also hat Gott die Welt geliebt?“82 – »menschliche«

77 Bhagavad Gita, zitiert nach Jack Hawley (Hrsg.), a.a.O., S.158.
78 Thich Nhat Hanh, Kein Werden, kein Vergehen, S. 45.
79 Sathya Sai Briefe, Ausgabe 93, S. 4.
80 Das »neti, neti« beziehe sich auf das Verständnis von Brahman, nicht auf Brahman selbst; es bedeute „nein, so ist es nicht, nein, dies ist nicht alles“; so Sathya Sai Baba in: N. Casturi, Sathya Sai Baba, Sein Leben, Band 3, S. 247.
81 Neues Testament, Joh. 4.24.

Eigenschaften zuschreiben, ist ein solcher Gott eine menschliche
Erfindung. Wird Gott oder das Göttliche als allesdurchdringende
Wahrheit erkannt, erfährt sich auch der Mensch, als Teil dieser Wahrheit,
als Teil des Göttlichen.

Avatare, Verkörperungen des Göttlichen
Wenn alles, und somit auch der Mensch, nur Widerspiegelung des
wahren Seins ist, wie aber könnte eine Widerspiegelung des Göttlichen
aus dem Intellekt heraus seine Quelle erkennen?

Wenn die Vorstellung von Gott nicht das letztlich Wahre und das Wahre
Göttliche seinerseits unfassbar ist, bleiben als »anfassbare« Wirklichkeit
nur die Erscheinungen Gottes in menschlicher Form, die in vedischer
Überlieferung Avatare genannt werden.

Was ist ein Avatar?
Ein Avatar ist eine Inkarnation des Göttlichen Bewusstseins auf Erden,
· in einer frei gewählten Form, aus Göttlichem Willen, samkalpa, frei
von karmischen Konsequenzen geboren,
· sich seines Einsseins mit dem Göttlichen und seiner göttlichen
Mission unmittelbar und in natürlicher Weise bewusst,
· frei von allen Bindungen an das «Ich», befindet er sich jenseits der
Dualität.

Avatare inkarnieren in verschiedenen Formen, die unterschiedlichen
Aspekten des Göttlichen entsprechen, mit abgestufter Ausstattung an
göttlichen Kräften ? vom im alltäglichen Leben nicht erkennbaren, seine
Aufgaben mit großer Liebe ausführenden Nitya-Avatarā bis hin zum
Pūrna-Avatarā, der alle göttlichen Kräfte besitzt, einen vollständigen,

82 A.a.O., Joh. 3.16; der eigenschaftslose Gott, das Göttliche, kann nicht allmächtig, allgütig, allwissend sein; er bzw. es ist Allmacht, Güte, Weisheit, und in der allesdurchdringenden „Einsheit“ seines Seins sind wir essentieller Teil und phänomenaler Ausdruck dieser Aspekte. Die Vorstellung von einem »liebenden Gott«, seiner Liebe als Eigenschaft und seiner Geschöpfe als Objekte seiner Liebe würde solches „Einssein“ zu dualen Konzepten der Erscheinungswelt und zu getäuschter Wahrnehmung degradieren.

umfassenden Überblick über alle Geschehnisse der Welt hat, der voller
Liebe ist und die Einheit der Menschen fördert.83

Avatare erscheinen zu bestimmten Zeiten in bestimmten, prinzipiell aber
in allen Kulturen, um durch ihr göttliches Wirken die Wiederherstellung
des Dharma, der Göttlichen Ordnung, zu fördern.

Bekannte Avatare der hinduistischen Tradition sind:
Rāma, der im Zeitalter des dvāparayuga als siebente Inkarnation von
Vishnu erschien und als Verkörperung des Dharma, der
Rechtschaffenheit gilt. Sein Wirken ist in dem heiligen Text des
„Rāmāyana“ überliefert.
Krishna, die achte Inkarnation von Vishnu, der etwa 3100 v.Chr. als Pūrna-
Avatar im Übergang zum kaliyuga, des Zeitalters des spirituellen
Niedergangs, erschienen ist. Sein Wirken ist in den Schriften des
Mahābhārata und in der Bhagavad Gītā überliefert.
Buddha, der nach hinduistischer Zuordnung als die neunte Inkarnation
von Vishnu gilt und in seiner äußeren Erscheinung als Gautama
Siddharta, als historischer Buddha, das „Rad der Lehre“ als Erlösungsweg
aufzeigte. In der buddhistischen Lehre wird der Buddha in seiner
Essenz als höchster Nirmānakāya bezeichnet, der in seinen Attributen
identisch ist mit den inneren Qualitäten eines Pūrna-Avatars.84
Sathya Sai Baba, der Pūrna-Avatar unserer Zeit, der als kalki-Avatar, als
zehnte Inkarnation Vishnus gesehen wird, stellt die Einheit der
Menschheit, die Einheit der Religionen und die Einheit der Menschen
mit Gott in den Mittelpunkt des spirituellen Lebens und Erlebens.

Pūrna-Avatare sind immanent in ihrer körperlichen Erscheinung und
zugleich transzendent in ihrer göttlichen Essenz:

83 Aus: Sathya Sai Baba, Weihnachtsansprache 1988.
84 Der historische Buddha als höchster nirmānakāya ist eine zeitbegrenzte Erscheinung auf der Grundlage des sambhogakāya, der beständigen Kontinuität der Körper der Buddhas, die nur von Arya-Bodhisattvas erkannt werden kann. Der sambhogakāya als Formkörper hat seine Quelle im dharmakāya, der wiederum nach dem Weisheitskörper, dem Bewusstsein im erleuchteten Zustand, und dem Essenzkörper, der letztlichen, allwissenden Art des Bestehens des Geistes, frei von allen Fehlern, unterschieden wird.

In der Bhagavad Gītā sagt Krishna zu Arjuna:
„Wisse, dass Ich, als die Göttlichkeit in allen Kreaturen und allem zur Natur
Gehörigen, ungeboren und unsterblich bin. Und doch manifestiere Ich mich von
Zeit zu Zeit in weltlicher Gestalt und führe ein dem Anschein nach irdisches
Leben. Ich mag menschlich erscheinen, aber das ist nur Meine Maya, denn in
Wahrheit bin Ich jenseits des Menschengeschlechts; Ich geselle Mich einfach
zur Natur, die Mein ist.
Immer wenn die Rechtschaffenheit und der Dharma nachlassen und das Böse
erstarkt, nehme Ich einen Körper an. Ich tue das, um die Menschheit
aufzurichten und umzuwandeln, das Übergewicht der Rechtschaffenheit über
die Schlechtigkeit wiederherzustellen, den grandiosen Grundplan und Zweck
des Lebens darzulegen und als das Vorbild zu dienen, dem andere folgen
können. Zu diesem Zweck komme Ich in einem Zeitalter nach dem anderen,
wenn eine spirituelle und moralische Krise um sich greift.“85

Und Sai Baba erklärt:
„Der Avatar nimmt eine menschliche Form an und benimmt sich auf
menschliche Art und Weise, damit die Menschen sich mit der Gottheit
verwandt fühlen können. Gleichzeitig steigt er zu göttlicher Größe auf, damit
auch die Menschen danach trachten können, Gott zu erreichen.“86

In ihrer äußeren Erscheinung sind sie zeitgebunden und letztlich
unwirklich, wie alle Teilnehmer des göttlichen Līlā, des geträumten
Weltendramas, nur eben mit den bereits erwähnten besonderen
Ausstattungen und Fähigkeiten:
„Gott ist Mensch und der Mensch ist Gott. Alle Menschen sind göttlich – wie
Ich. Der einzige Unterschied zwischen dir und Mir ist, dass du nichts von
dieser Göttlichkeit weißt.“87

Auch der Darshan, der Segen, der von der körperlichen Anwesenheit des
Avatars ausgeht, ist zunächst ein Vorgang der phänomenalen
Wahrnehmung auf der Grundlage geistiger Schwingungen. Erst mit der
Annäherung an die formlose innere Göttlichkeit wird der zeitgebundene
Vorgang eines »äußeren« Darshans stufenweise zu einem beständigen

85 Bhagavad Gita, zitiert nach Jack Hawley (Hrsg.), a.a.O., S. 73.
86 Sathya Sai Baba, zitiert aus einem Video von Bock, Aura of Divinity.
87 Ebd.

inneren Segen des Göttlichen, unabhängig von der körperlichen
Anwesenheit des Avatars.

Denn in ihrer letztlichen Natur sind Avatare eins mit dem Göttlichen
Absoluten – sie sind in der Welt, aber nicht von der Welt. Sie sind ebenso
unfassbar und unbeschreibbar wie das Göttliche Absolute selbst. Es mag
uns zwar verwehrt sein, die letztliche Wahrheit des Göttlichen und seiner
Inkarnationen direkt zu erkennen; ein Konzept über die Wahrheit zu
erfassen und innerhalb unserer mentalen Begrenzungen zu erkennen,
kann dennoch Teil der göttlichen Vorsehung und somit sinnvoller Teil
unserer Lebensaufgabe sein:
„Denn jeder Mensch muss sich zuerst seinen eigenen Gott erschaffen, bevor er
den wirklichen Gott erkennen kann. Jener Gott aber, den der Mensch in seinem
Inneren erschaffen hat, wird schließlich zur Tür, durch die er in das Heiligtum
seines innersten Seins gelangt, zum wahren und wirklichen Gott, der im
Herzen des Menschen zu finden ist.“88

3.2 Wie frei ist unser Wille?

„Macht man es sich nicht zu leicht, wenn man meint, das Leben sei nur ein
»Happening«? Und dann schließt man die Augen, wenn man jemanden im
Rollstuhl sieht“, fragte eine Besucherin Ramesh Balsekar.
„Nein, das tut man nicht“, antwortete er, „man tut genau das, was man zu
tun beabsichtigt, als ob man einen freien Willen hätte. Ich gebe dir ein Beispiel:
Ich sitze im Taxi. Es stoppt vor einer Ampel, ein Bettler kommt, und ich
»entscheide«, ihm etwas zu geben. Ich hole meinen Geldbeutel heraus, da
schaltet die Ampel auf Grün, und das Taxi fährt weiter. Oder: Das Taxi hält,
ich will dem Bettler etwas geben, da erscheint ein stärkerer Bettler, der dem
anderen die Münze aus der Hand reißt. Ich habe »entschieden«, aber das
Ergebnis meiner Entscheidung ist mir entzogen. Es liegt längst fest.“89

Ein markantes Beispiel für eine Frage, wie sie immer wieder in den
Gesprächen mit den Advaita-Meistern »hochkommt«. Emotionen sind
schnell bei der Hand, und kulturell geprägte Vorstellungen über
Verantwortung, Versagen und Schuldgefühle geben die Richtung vor für

88 Sathya Sai Baba, in: Sathya Sai Briefe, Sommer 2009, S. 21.
89 Auszug aus einem Interview mit Ramesh S. Balsekar.

die sich anschließenden, immer wieder ähnlich verlaufenden
Auseinandersetzungen mit diesem Reizthema.

Bevor man aber darangeht, sich in diese Diskussion einzumischen, wird
es sinnvoll, ja sogar notwendig sein, den Mechanismen im Ablauf solcher
Willens- und Handlungsimpulse nachzuforschen. Zu groß wäre sonst die
Gefahr, mit schwammigen Vorstellungen über die zugrunde liegenden
Gesetzmäßigkeiten unzuverlässige Antworten auszulösen.

Vom Wollen zum Handeln
Wenn wir uns am Beispiel »der milden Gabe an den Bettler« zu einem
verlässlichen Ergebnis vorarbeiten wollen, wäre es hilfreich, zunächst
einzugrenzen, welche Handlungsmuster nicht zu dieser Situation passen.
Auszugrenzen wären:

– Zufälliges Handeln: Einmal ganz davon abgesehen, ob es so etwas wie
Zufall geben kann, wenn es ihn denn gäbe, würde solchem Handeln
a- priori ein Willensimpuls fehlen und sich die Frage eines gewollten
Handelns gar nicht stellen.

– Zwanghaftes Handeln: Beeinträchtigt durch genetische und/oder soziale
Prägungen wird in den meisten Fällen wider besseres Wissen gehandelt.
Breit ist das Spektrum von zeitweiligen, stark emotional betonten
Zwängen, mit Phänomenen wie Konsumzwang oder Alkoholismus, bis
hin zu den krankhaften Zwangshandlungen eines Triebtäters. Die
Abwägung ethischer Argumente, etwas (jetzt) zu wollen oder nicht,
wird vom Handlungszwang teilweise oder vollständig verdrängt.

– Gewohnheitsmäßiges Handeln: Ein Kind läuft auf die Straße; ich trete »ohne
nachzudenken« auf die Bremse und versuche, einen Unfall zu verhindern. Eine
Abwägung zwischen der Sinneserfahrung der Augen »Kind läuft auf die
Straße« und dem Handlungsimpuls »Bremsen« findet gar nicht statt; der
Willensimpuls läuft über unterbewusste Erfahrungsinhalte.

– Handeln aufgrund von Intuition oder (göttlicher) Eingabe: Ein Impuls,
der aus subtilen Bewusstseinschichten, aus dem Herzen und nicht aus
dem Intellekt kommt, löst eine Handlung aus, die von der Person als
funktionalem Zentrum, „working mind“, ohne das Dazwischentreten des
„thinking mind“ ausgeführt wird.90

Bei der Einordnung von »gewohnheitsmäßigem Handeln« und »göttlicher
Eingabe« ist Vorsicht geboten: Beide ähneln sich im Ablauf – sie
geschehen ohne erkennbares Dazwischentreten des eigenen Wollens,
sind aber essentiell völlig verschieden. Stets müssen wir uns fragen:
Handelt es sich um einen unterbewussten Impuls aus »gewohntem Trott«
oder um eine uns nicht bewusste göttliche Eingabe?

Alle diese Muster des Wollens und Handelns treffen auf das obige »Milde-
Gaben-Beispiel« nicht zu.

Und wenn wir dann noch die abstrakten, mentalen Handlungsstränge
ausnehmen – unser Beispiel ist kein Gedankenspiel sondern die
Beschreibung einer Erinnerung an einen konkreten Ablauf, dann wird das
Feld solcher Alltagssituationen deutlicher, von denen wir üblicherweise
annehmen, dass sie gemäß unserem Willen und Wollen ablaufen.

Zum Prozess der Wahrnehmung im aktuellen »Bettler-Beispiel« muss an
vorausgegangene Aussagen zur Primärerkenntnis erinnert werden, an
den ersten ungetäuschten Augenblick der Wahrnehmung und an die sich
anschließende Sekundärerkenntnis, eine getäuschte Vorstellung, die der
Geist nicht mehr direkt, sondern nur mit Hilfe eines geistigen Bildes, eines
„Generic Image“ wahrnimmt. Dieses geistige Bild, das dem Konzept und
den Wertungen vorangegangener Wahrnehmungen entspricht, sorgt
dafür, dass ich nicht den Bettler, sondern mein Konzept von einem Bettler
sehe!

Der Primär- und der Sekundärerkenntnis folgt ein Impuls des Wollens,
ein Auslöser, etwas (jetzt) zu wollen oder zu lassen, und daran

90 Der denkende Geist und der arbeitende Geist sind zwei Begriffe, die Ramesh S. Balsekar häufig benutzt. Der Aspekt des Geistes, der – ausgerichtet auf das Ego – vergleicht, verurteilt, sich Sorgen macht etc., ist der denkende Geist, „thinking mind“, wohingegen der arbeitende Geist, „working mind“, ganz in seine jeweilige Tätigkeit versunken ist. Beide Aspekte des Geistes sind involviert in dem, was gerade getan wird, doch der denkende
Geist glaubt, dass „er“ es tut und macht sich Gedanken über die Konsequenzen.

anschließend ein Handlungsimpuls als Auslöser der eigentlichen
Handlung.

Je nach spiritueller Entwicklung erfährt der unerlöste Handelnde die
Wirkungen seines Handelns einerseits als unmittelbare Reaktion auf
dieses Handeln und andererseits in Form karmischer Eindrücke, als
Prägung für nachfolgende Handlungen gleicher Art, während ein
Erleuchteter, der in dieser Situation einem inneren Impuls folgt, das heißt
ohne ein Dazwischentreten des „thinking mind“, sein Handeln ohne
karmische Wirkung lediglich bezeugt.

Freier Wille oder Determination?
Die Frage der Willens- und Handlungsfreiheit, eine Handlung nach
»eigenem« Wollen durchzuführen oder zu unterlassen, wird in der
christlich geprägten Kultur bereits im frühen 16. Jahrhundert in den
Disputationen Luthers und Erasmus‘ von Rotterdam91 ausgetragen:

Während Erasmus als Humanist das freie Wahlvermögen des Menschen
an sich und im Verhältnis zur Gnade Gottes aus einer mittleren Position
beurteilt und die Meinung derjenigen billigt, „die dem freien Wahlvermögen
einiges zuschreiben, aber der Gnade das meiste“92, lehnt Luther dieses freie
Wahlvermögen, das liberum arbitrium, kategorisch ab. Im Streit darum,
was das arbitrium des Menschen von sich aus, d.h. aus sich selbst heraus
kann und wozu es nur durch die Gnade Gottes fähig ist, will er dem
Menschen bewusst machen,
„dass er hinsichtlich seines Heiles von sich selbst nichts, von Gott dagegen alles
zu erwarten habe.“93
„Alles, was wir tun, alles, was geschieht, geschieht – auch dann, wenn es uns
veränderlich und zufällig zu geschehen scheint – in Wirklichkeit mit
Notwendigkeit und unveränderlich, wenn du Gottes Willen betrachtest.“94

91 Martin Luther, De servo arbitrio, und Erasmus von Rotterdam, De libero arbitrio, entnommen aus: Wilfried Härle, Der (un-)freie Wille aus reformatorischer und neurobiologischer Sicht, in: Menschsein und Beziehungen, S. 253ff.
92 Erasmus von Rotterdam, zitiert nach: Wilfried Härle, a.a.O., S. 259.
93 Martin Luther, zitiert nach: Wilfried Härle, a.a.O., S 282.
94 Zitiert nach: Wilfried Härle, a.a.O., S. 276.

Ob der Mensch nun so etwas wie einen freien Willen hat oder nicht, oder
ob es gar »eigenständige« Gehirnaktivitäten sein könnten, die
vermeintlich freiwillentliche Entscheidungen und Handlungen steuern,
wird in jüngsten neuro-biologischen Debatten hinterfragt, die den
Umkehrschluss nahelegen könnten, dass „wir nicht tun, was wir wollen,
sondern «wollen», was wir tun.“

Neurobiologen, wie Benjamin Libet, haben herausgefunden, dass etwa
eine halbe Sekunde bevor der Testperson eine »Wollensabsicht« bewusst
wird, in bestimmten Gehirnregionen eine »Wollensvorbereitung«
stattfindet. Sie nennen diese zeitlich vorgelagerte Gehirnaktivität
»symmetrisches Bereitschaftspotential« und interpretieren dies so, als ob
„das – unbewusst entstehende – Bereitschaftspotential der faktischen – bewusst
vollzogenen – Entscheidung vorangehe und diese determiniere und darum die
Annahme einer freiwillentlichen Entscheidung auf einer Selbsttäuschung bzw.
Illusion beruhe.“95

Daraus aber zu schließen,
– dass das, „was wir als ‚Ich‘ oder als ‚Selbst‘ erleben, ‚in Wirklichkeit‘ das
Zusammenspiel bestimmter Strukturen bzw. die Interaktion verschiedener
Gehirnareale sei“96,
– dass es aus dieser Argumentation heraus gar keine Instanz gebe, die
man als »Ich« oder als das »Selbst « bezeichnen könnte,
– und dass das von einem solchem »Ich« vermeintlich ausgehende
Wollen deshalb eine Illusion sei,
ein solcher Reduktionismus verkürzt die psychischen Zusammenhänge:
Der Punkt, der bei der Interpretation dieser Experimente zu kurz kommt,
ist, dass anstelle eines zu spät reagierenden Ichs als Impulsgeber für das
»Bereitschaftspotential« ein das Ich steuernder Impuls von subtileren,
unterscheidenden Bewusstseinsschichten ausgehen könnte.

Ein wesentliches Moment von Willensfreiheit wird in den östlichen
spirituellen Traditionen in Karma, dem Naturgesetz von Ursache und
Wirkung, gesehen.

95 G. Roth und W. Singer, zitiert nach: Wilfried Härle, a.a.O., S 292.
96 Zitiert nach: Wilfried Härle, a.a.O., S. 301.

Im Umgang mit dem Begriff »Karma« werden im Buddhismus die
Merkmale des Handelns mit Körper, Rede und Geist ? als
Handlungsabsichten und auch als die Handlungen selbst – und ihre
karmischen Wirkungen unterschieden. Karmische Handlungen
hinterlassen in den subtilsten Schichten des Bewusstseins Eindrücke,
»Imprints«, die zum Zeitpunkt ihrer Reife und im Zusammentreffen mit
den förderlichen Umständen zu karmischen Wirkungen werden.

Karmische Handlungen und ihre Wirkungen werden charakterisiert:

1. Die Handlungen und ihre Resultate sind sicher – gute Handlungen
erzeugen günstige Wirkungen, schlechte Handlungen erzeugen schlechte
karmische Konsequenzen,
2. karmische Potentiale vermehren sich ? verstärken sich in ihrer Latenz,
müssen also »bereinigt« werden,
3. nur vollständige karmische Handlungen, von der Absicht über die Durchführung
bis hin zur abschließenden Motivation – Genugtuung oder Reue -,
erzeugen karmische Wirkungen; von nicht durchgeführten Handlungen
erfährt man keine karmischen Resultate,
4. karmische Samen verlieren niemals ihr Wirkpotential, sondern bleiben
latent in unserem Geist vorhanden, bis sie im Zusammentreffen mit den
sie aktivierenden Umständen zur Wirkung gelangen.

Und von der Art und Weise ihrer Wirkungen unterscheidet man:

– Reifendes Karma, den Samen einer karmischen Handlung, der die
gegenwärtige Existenzform bedingt, und
– erfüllendes Karma, als beitragende Umstände, die Art und Ausmaß
der positiven oder negativen Wirkungen beeinflussen.
In vedisch geprägten Darlegungen wird zusätzlich die zeitliche
Komponente karmischer Ursachen und Wirkungen hervorgehoben:
– »Sanchita-Karma« als Vorrat »karmischer Schulden«, der sich in
früheren Geburten angesammelt hat,
– »Prārabdha-Karma«, der Teil des früher geschaffenen Karma, der im
gegenwärtigen Leben – als Lebensaufgabe ? aufgearbeitet werden
muss,
– und »Agami-Karma«, neues Karma, das in der gegenwärtigen
Geburt geschaffen wird.

Dominant ist jedoch in beiden spirituellen Richtungen die Vorstellung,
dass karmische Wirkungen durch willentliche Anstrengungen, zum
Beispiel durch Sādhanas, spirituelle Übungen, bereinigt, das heißt, an
ihrer künftigen Wirkung gehindert werden müssen:

Folglich: Gibt es nun einen freien Willen oder nicht?

· Sind wir – wie weitgehend auch immer – in unseren Willens- und
Handlungsimpulsen frei, nach eigenem Urteil zu entscheiden, und
tragen die Verantwortung für die Wirkungen dieser Handlungen,
nach dem biblischen Zitat „Was der Mensch säet, das wird er ernten“.
· Oder sind unsere Handlungen determiniert, d.h. der willentlichen
Bestimmung nicht zugänglich, und wir akzeptieren „Dein Wille
geschehe“.
· Oder ist gar die alternative Fragestellung in der Form eines
„Entweder – oder“, so plausibel sie auf Anhieb geklungen haben mag,
falsch und wäre eher in der Form eines „Sowohl – als auch“ zu stellen?

In der weiteren Untersuchung muss nämlich akzeptiert werden, dass das
Naturgesetz von Ursache und Wirkung? „wenn wir dieses säen, werden wir
jenes ernten“ – keineswegs der Konzeption entgegensteht, dass alles, was
geschieht, auf göttlichem Willen basiert und – in uns – in Übereinstimmung
mit einem Kosmischen Plan passiert.

Unabhängig davon, ob es nun einen freien Willens gibt oder nicht, ist
unzweifelhaft, dass das Handeln als solches integraler Bestandteil der
manifestierten Existenz ist. Wem es bestimmt ist zu handeln, der wird es
nicht unterlassen können: „Es ist die Natur der Universellen Energie, zu
produzieren.“97

In der Frage, ob die Person aber den eigenmächtigen Willen hat, eine
Handlung zu initiieren oder zu unterlassen, bleiben die Aussagen der
Advaita-Meister nach erstem Anschein ambivalent.
„Die göttliche Hypnose hat die Vorstellung des persönlich Handelnden
hervorgebracht“, meinte Ramesh Balsekar. „Das Gefühl, der Handelnde zu
sein, lässt uns diese Welt als real empfinden, lässt die Vorstellung eines freien

97 Ramesh S. Balsekar, Wen kümmert?s, S. 88.

Willens aufkommen, führt zu einem starken Verantwortungsgefühl, lässt
Erwartungen, Schuldgefühle und Hass entstehen. Das Gefühl, selber der
Handelnde zu sein, gibt uns das Gefühl, »wir« würden unser Leben leben.“98

»Freier Wille« und »Vorsehung« sind möglicherweise beide richtige
Konzepte, in dem Sinne nämlich, dass das normale Individuum nicht
anders als in Begriffen von »freiem Willen« denken kann; es kann nicht
anders handeln als in Begriffen von »freiem Willen«; und es glaubt, dass
alles, was durch ihn an Handlungen in Gang gesetzt wird, ein direktes
Ergebnis seiner Entscheidungen ist.
„Das Individuum, das ein gewisses Verständnis der spirituellen Grundlage
hat, weiß, dass es wahrlich keinen freien Willen hat, doch da es im täglichen
Leben weiterhin Entscheidungen treffen und dementsprechend handeln muss,
tut es das auf der Basis, »als ob« es die Wahl und den freien Willen hätte, doch
weiß es, dass sie ein Teil des Ablaufs der Totalität sind, und daher seine
Entscheidungen – korrekt oder unkorrekt – nicht hätten anders sein können.“99
„Wenn du glaubst, »du« suchst oder »du« strengst dich an, kommt es zu
Verwirrung, Frustration und Kummer. Wenn du akzeptierst, dass
Anstrengung geschieht, egal, was dabei herauskommt, werden weder Kummer
noch Frustration aufkommen. Jede Anstrengung geschieht einfach; es gibt
keinen individuellen Handelnden.“100

Dieses Mit-dem-Strom-Schwimmen, das gleichmütige Hinnehmen
aller Handlungen, „egal, was dabei herauskommt“, bedeutet nicht,
gleichgültig oder unverantwortlich zu handeln und ethische
Grundsätze über Bord zu werfen, sondern nur,
„dass du die Vorstellung fallen lässt, du seiest der ursächlich Handelnde;
dann ist es so, als ob all deine Handlungen von Gott selbst nur um
seinetwillen ausgeführt würden, ohne Besorgnis darüber, ob die
Handlungen dharmisch oder adharmisch sind.
Wenn du als Gott für Gott handelst, ist es ausgeschlossen, dass du etwas
Adharmisches tust“, erklärt Krishna in der Bhagavad Gita. „Gott

98 Shirish S. Murthy, Vom Bewusstsein getroffen, S.127.
99 Ramesh S. Balsekar, Erleuchtende Briefe, S. 117f.
100 Shirish S. Murthy, a.a.O., S. 157.

wohnt mitten im Herzen aller Geschöpfe und wirbelt sie immerzu im Kreis
herum, als ob sie auf einer rotierenden Maschine befestigt wären. Es ist so, als
bildeten sich tanzende Marionetten ein, sie seien nicht bloß Marionetten,
sondern vielmehr die Tänzer, und aufgrund dieser Selbsttäuschung verstricken
sie sich mehr und mehr in den Schnüren.“101
„Solange sich der Mensch einbildet, vom Selbst getrennt zu sein“, fügte auch
Ramana Maharshi hinzu, „wird das Individuum durch vorbestimmte
Handlungen und Erfahrungen gehen müssen, die die Folgen früherer Taten
und Gedanken sind. Die einzige Möglichkeit, sich dieser Herrschaft zu
entziehen, besteht in der völligen Transzendierung des Karmas durch die
Verwirklichung des Selbst.
Der Körper hat die Handlungen zu versehen, die prārabdha (früher
geschaffenes Karma) vorsieht, und ein Mensch besitzt die Freiheit, sich mit dem
Körper zu identifizieren und den Früchten seines Tuns verhaftet zu sein, oder
sich von ihnen zu lösen und nur Zuschauer seiner Aktivitäten zu sein.
Willensfreiheit besteht nur in Verbindung mit der Individualität. Solange sie
dauert, gibt es Willensfreiheit.“102

Das Nebeneinander von vermeintlich freiem Willen und Vorsehung findet
sich auch in den Aussagen von Sai Baba. Da genügt schon eine
Gegenüberstellung seiner Aussagen, um die Doppelschichtigkeit zu
erkennen. Sagt er einerseits:
„Nichts ist freier Wille, alles ist Mein Wille.“
„Jedes menschliche Wesen ist tatsächlich ein Instrument Gottes. Als solches
sollte er seine Pflicht tun und die Ergebnisse Gott überlassen. Die Menschen
müssen ihre Pflichten erfüllen; Erfolg oder Misserfolg wird durch das Göttliche
bestimmt. Betrachtet euch nicht als die Handelnden. Entwickelt die
Überzeugung, dass das innewohnende Bewusstsein euch leitet und befähigt zu
handeln“103,
so betont er bei anderer Gelegenheit:
„Der Mensch hat einen freien Willen.“

101 Bhagavad Gita, zitiert nach Jack Hawley (Hrsg.), a.a.O., S. 228 und 226f.
102 Ramana Maharshi, a.a.O., S. 265f und 272; m.E. kann hier nur eine vermeintliche Willensfreiheit gemeint sein.
103 Sathya Sai Baba, „Thought for the Day“ vom 8. Februar 2006.

„Jedem ist vollkommene Freiheit gegeben, das zu genießen, was man wünscht.
Aber es gibt eine Einschränkung: Jeder Handlung entspricht eine Reaktion.
Diese Regel vorausgesetzt, könnt ihr tun, was ihr möchtet. Alles was geschieht,
ist die Konsequenz der eigenen Gedanken und Handlungen.“104

Ist das ein Widerspruch? Es wäre doch gut vorstellbar, dass der göttliche
Plan auf einer bestimmten Wegstrecke der spirituellen Entwicklung einen
gewissen Korridor vorsieht und vorgibt, auf dem durch richtige oder
falsche »Entscheidungen« karmische Wirkungen als Lernhilfen das
Verstehens des richtigen Weges erleichtern , um anschließend zum vollen
Verständnis des Weges vorzudringen, auf dem danach dieser
»Lernkorridor« nicht mehr benötigt wird.

Auch Ratan Lal hielt – möglicherweise aus didaktischen Überlegungen –
einen »vorläufigen« Handlungsspielraum für möglich:
„Gott lässt den Menschen einen gewissen Spielraum, eigene Anstrengungen zu
machen. Es gibt zwei Ebenen, die des Absoluten und die des Relativen. Auf der
relativen Ebene gibt es freien Willen. Wenn ihr über diese relative Ebene
hinausgeht, gibt es nur noch die Wahrheit. Da ist dann kein freier Wille mehr;
und ihr als Individuen seid nicht mehr da, um nach einem freien Willen zu
fragen.“105

Anil Kumar, der derzeitige Übersetzer der Ansprachen Sai Babas, konnte
in einem Gespräch mit Sai Baba herausfinden, wie ein solches Dilemma
aufzulösen sein könnte:
„Swami, wie kann man erklären, dass es einerseits Handlung und Ergebnis
gibt, und andererseits, dass es weder einen Handelnden gibt, noch eine
Handlung?“ und Sai Baba hat ihm geantwortet: „Solange ihr euch auf der
Ebene des »Mind« befindet, werdet ihr nicht von den Folgen eurer Taten befreit
sein.“106

104 Sathya Sai Baba, Thought for the Day, 19. Januar 2005.
105 Ratan Lal, Satsang, S. 20.
106 Anil Kumar, Fragen an Sathya Sai Baba, 16. Oktober 2002.

Vor dem Versuch einer abschließenden Meinungsbildung in der Frage
„Freier Wille, Ja oder Nein“, könnte es hilfreich sein, sich zunächst über
die »Beteiligten«107 am Prozess der Willensbildung klar zu werden:

1. Instrumentale Grundlage aller Entscheidungsprozesse ist der
physisch-psychische Körper-Geist-Organismus, der – durch Gene
definiert und durch soziale Bedingungen konditioniert – im Rahmen
dieser Handlungsmuster Handlungen ausführt.

2. Ebenfalls beteiligt ist das im Alter von zwei bis drei Jahren
manifest werdende und zeitlebens wirksam bleibende Ego mit der
Wahrnehmungsfähigkeit individueller kognitiver Lebensprozesse.

3. Hinzu tritt die durch »Ich-Wahrnehmung«, aham vritti, ausgelöste,
getäuschte Vorstellung eines eigenmächtig Handelnden, der – im
Rahmen seiner charakterlichen Prägung – scheinbar eigene Willensund
Handlungsimpulse initiiert.

4. Und „last not least“ das atmische Selbst, reines Bewusstsein, das
durch das Körper-Geist-Instrument nach kosmischem Plan
vorbestimmte Handlungen in Gang setzt, ohne direkt in den Wollensund
Handlungsprozess involviert zu sein.

Erst nach einer sorgfältigen Analyse der Handlungsgrundlagen, der an
einer Handlung »Beteiligten« und der Erklärungshilfen der spirituellen
Meister, mag man sich zutrauen, sich auf der Grundlage eines wie auch
immer gültigen persönlichen Verständnisses an eine zusammenfassende
Bewertung der Frage der „Doership“ zu wagen:

· Die unverbrüchliche Einheit karmischer Handlungen und ihrer
Wirkungen gilt auf der Ebene des »Mind« in seiner Ausrichtung auf
die Erscheinungswelt ausnahmslos und somit für alle: „Das ist das
Gesetz der Natur.“ Dennoch kann die Ebene der karmischen
Verstrickung durch göttliche Gnade transzendiert werden und dem
Menschen eine Weisheitserfahrung zuteil werden, die jenseits der
konventionellen Erfahrungen liegt:
„Ihr fragt euch vielleicht, ob es einen Weg gibt, den Folgen des Handelns zu
entkommen. Ja! Denen, die Gottes Gnade verdienen, ist es möglich. Das

107 Gemeint sind die vom »Ich« auf der Grundlage getäuschter Wahrnehmung empfundenen, scheinbar von
einander getrennten »Beteiligten« am Handlungsgeschehen.

Gesetz, welches das menschliche Leben und die Welt als Ganzes regiert, ist
jenseits des menschlichen Fassungsvermögens. Das göttliche Prinzip ist mit
dem bloßen Auge nicht sichtbar. Aber es ist dieses Prinzip, welches euch den
Impuls gibt, zu handeln und die Folgen davon zu erfahren.“108

· Der zunächst empfundene Widerspruch zwischen freiem
Willensimpuls und letztlicher Determination ist nur ein scheinbarer
Widerspruch:
Die Göttliche Regie spielt halt mit dem einen das Spiel »Ich will, was
ich will« und mit dem anderen »Ich weiß, dass ich nichts wollen kann«.
Der Traumdarsteller »Mensch« kann zwar die Rolle „Ich bin ein freier
Mensch mit eigenen Entscheidungen“ gemäß den Regievorgaben perfekt
spielen, in seiner Natur als Widerspiegelung des Göttlichen mangelt
es ihm aber schlichtweg an Handlungsautonomie!
Jeder Versuch einer Beweisführung in Sachen »freier Wille« wäre
schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil auch die denkbare
Vorstellung, dass ein »freier Wille« existieren könnte, wiederum
göttlicher Wille sein könnte, diese »Erkenntnis« genau so und nicht
anders zu machen.

· Das Problem bei der Fehleinschätzung eines vermeintlich freien
Willens ist die unkorrekte Wahrnehmung der Funktion der Person
auf der Grundlage von Bewusstsein, das klar und erkennend ist, und
die Fehlinterpretation seiner Erkenntnisse auf der Grundlage seiner
begrenzten Konzepte.

· Solange wir im dualen Verständnis verstrickt sind, handeln wir, »als
ob« wir einen freien Willen hätten, und erfahren leidvolle
Konsequenzen. „Solange der Träumer träumt, beißt ihn die geträumte
Schlange.“ So, wie wir als Träumer im Traum scheinbar der Initiator
des Traumgeschehens sind, so müssen wir – sobald wir aus diesem
Traum erwachen – erkennen, dass wir nicht Steuermann dieses
Geschehens waren. Sobald wir aus dieser Verblendung entlassen
werden, wird uns verständlich, dass es Entscheidungsfreiheit nie
gegeben hat und auch gar nicht geben konnte, weil es zu keiner Zeit

108 Sathya Sai Baba, Ansprache vom 21. Juli 2005.

eine autonome Person gab, die die Richtung ihrer Entscheidungen
hätte bestimmen können!

· Wenn aber – abhängig von der Göttlichen Gnade des Verstehens – die
falsche Sichtweise überwunden werden kann, »das überdrehte Rad
getäuschter Konzepte eines autonom Handelnden« sozusagen in die
richtige Position eines zwar individuellen, aber nicht eigenmächtig
Handelnden zurückgedreht wird, tritt die Person als
»Handlungsmacht« in den Hintergrund.

Jetzt erlebt sie anstelle der nur eingebildeten Autonomie eines
»Laiendirigenten im Orchester weltlicher Handlungen« ihre Teilnahme als
»brillantes göttliches Instrument in der Aufführung einer universellen
Symphonie«, – nicht mehr im trügerischen eigenmächtigen Handeln,
sondern in der authentischen Anteilnahme und Teilhabe eines
Instrumentes im göttlichen Spiel.

Aber wer handelt nun »wirklich«? Beteiligt sind sie alle: Der Körper-Geist-
Organismus, das Ego und das Atmische Selbst, reines Bewusstsein.
So, wie ein erfahrener Steuermann potentiell weiß, wie er ein Schiff zu
steuern hat, braucht er zum tatsächlichen Steuern dennoch das Meer, das
Schiff und das Steuerruder. In sinnbildlich gleicher Weise »braucht«
Atman, der »Steuermann«, das Ego als Steuerinstrument und das Schiff,
den zugrundeliegenden Körper-Geist-Organismus, um in der Ausdehnung
in die Dualität der Erscheinungswelt handeln zu können: „Damit Leben
stattfinden kann, muss sich der Ursprung, das Bewusstsein, mit einem Körper-
Geist-Organismus identifizieren und ein Ego kreieren.“109

Wie alle Vergleiche hinkt auch dieser in Bezug auf das atmische Selbst.
„Gott ist der ewige Zeuge, er interveniert nicht“, sagt Sai Baba.110

Dennoch lässt das Göttliche die Person, als Spiegelbild seiner selbst,
genau jene Handlungen ausführen, die in der Göttlichen Vorsehung
angelegt sind, und trägt eben damit zum Missverständnis der scheinbar
handelnden Person bei, die sich dummerweise selbst für den Steuermann
hält und nicht versteht, dass sie nur als Instrument des göttlichen Willens

109 Ramesh S. Balsekar, The Cosmic Law, (DVD).
110 Sathya Sai Baba, Ansprache vom 30. März 2006.

»gehandhabt« wird. Māyā, die allumfassende Täuschung der
Phänomenalität, ist halt göttlich!

Sünde und Schuld, Sühne. und Vergebung
„Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.“111

In engem Zusammenhang mit den Gedanken zum Wesen der alles
durchdringenden Göttlichkeit und zur Frage unserer Willensfreiheit muss
auch der Versuch gewagt werden, zu den in unserer Kultur tief
verwurzelten Vorstellungen von »Sünde und Schuld«, »Sühne und
Vergebung« Antworten zu finden. Antworten, die sich im Kontext der
bisherigen Überlegungen als plausibel und annehmbar erweisen.

Versteht man Sünde als einen Verstoß gegen ein dem Menschen
auferlegtes Gebot und Schuld als die konsequente Verantwortung für die
Verletzung eines solchen Gebotes an sich – „ich bin nach Gebot oder Gesetz
schuldig“ – oder als subjektives Schuldempfinden – „ich fühle mich deshalb
schuldig“ – stellen sich zwei Fragen:

– Wer hat diese Gebote und Gesetze definiert?
– Habe ich überhaupt die Freiheit, mich für oder gegen diese Gebote zu
entscheiden, um mich bei Verstößen gegen sie in einem tieferen Sinne
schuldig zu fühlen?

Natürlich ist geistliche und gesellschaftliche Führung erforderlich, um
eine Gemeinschaft nach den für sie geltenden Konventionen zu lenken
und bei Abweichungen zu disziplinieren. Und zweifellos bin ich als
Mitglied einer solchen gesellschaftlichen Ordnung verpflichtet, die
Spielregeln dieser Gesellschaft einzuhalten. Bei Verstößen werde ich zur
Rechenschaft, zur »Sühne« gezogen, sofern die Ordnungshüter mit ihren
Sanktionsmöglichkeiten erfolgreich tätig werden konnten.

Das Respektieren weltlicher Konventionen ist jedoch nur eine Seite des
Problems. Das Suchen nach spiritueller Erkenntnis und die Frage nach der
inneren Verantwortung sind eine andere, nur persönliche Dimension:
Das »Menschliche« im Menschen, diese psychisch-physische Einheit mit

111 Zur inhaltlichen Deutung des Vaterunsers vgl. die nachfolgende Übersetzung aus dem Aramäischen, der Originalsprache, in der Jesus gelehrt hat.

ihrer genetisch-sozialen Prägung, handelt, erlebt die karmischen
Wirkungen ihrer Handlungen und leidet an den Wirkungen unheilsamer
Handlungen. Von daher ist mit der Infragestellung von innerer
Verantwortung auch nicht die Negation weltlicher Schuld und nicht die
Negation der karmischen Folgen des Handelns gemeint, sondern die
Veränderung der Sichtweise: Weg von der Identifizierung mit dem
Körperlichen, hin zum Verstehen des wahren göttlichen Seins.
„Ich bin nicht dieser Körper, und ihr seid es auch nicht“, sagt Sai Baba.
Wir sind nicht nur diese psychisch-physische Einheit, als die wir uns
üblicherweise erfahren, wir sind mit unserem letztlichen und wahren
Wesen Teil des Brahman, des absoluten Einen.

Wenn der Mensch aber in seiner derzeitigen begrenzten Wahrnehmung
unfähig ist, den göttlichen Willen im Einssein mit allem – dem Guten wie
dem Bösen – zu erkennen, und er nur die eine Hälfte dieser umfassenden
Phänomenalität anerkennt, erfindet er »Gott« für die lichte Seite seiner
Erfahrungen und den »Teufel« für die andere, die dunkle Hälfte. Und
unwillig, beide Seiten der Welt in sich selbst zu akzeptieren, fragmentiert
er sein Selbstverständnis, strebt nach dem, was er für gut hält und grenzt
aus, was er an sich verabscheut, was er als »sündig« empfindet.
„Alle »unliebsamen« Aspekte oder Eigenschaften des Egos werden eliminiert,
und das vollständige Selbstbild des Egos wird zum beschnittenen Selbstbild der
Person. Das ist das Spiel von māyā, das den Abstieg des Bewusstseins von
seiner Universalität zum Ego und dann zur Person zeigt.“112

Aus der sich daraus ergebenden Vorstellung der Unvollkommenheit und
aus dem Gefühl einer sich anschließenden Unzulänglichkeit entwickelt er
Schuldkomplexe und den als notwendig empfundenen Versuch, diesen
negativen Teil seiner Persönlichkeit zu »sühnen«.

Wenn – und nur wenn – wir dank göttlicher Gnade unser Handeln als
Ausdruck einer umfassenden göttlichen Vorsehung verstehen können ?
„nichts ist freier Wille, alles ist Mein (göttlicher) Wille“113, und wir die diesem
Plan folgende Prägung der Person als außerhalb unserer

112 Ramesh S. Balsekar, Die Eine Wahrheit, S.140.
113 N. Bathia, Traum und Wirklichkeit im Angesicht Gottes, S. 141.

Entscheidungsmöglichkeiten liegend akzeptieren, wie kann dann ein
Gefühl der inneren Schuld für solches Handeln abgeleitet werden, auch
wenn es in der jeweiligen Kultur und Zeit als »sündhaft« definiert wird?
„Wenn Gottes Wille umfassend akzeptiert wird, ist für einen persönlichen
Willen kein Platz, und es kann keine Rede sein von etwaiger Sünde oder
etwaigem Verdienst“, sagte Ramesh Balsekar. 114
„Viele Menschen beten gewohnheitsgemäß: ‚Oh Herr, ich bin ein Sünder,
meine Seele ist voller Sünde, ich habe so viel gesündigt.‘ Aber wer ist es
denn, der gesündigt hat? Kann ein Mensch jemals getrennt vom Herrn
existieren? Bekenntnisse wie die, dass ihr Sünder seid, sind nicht gut für
euch. Ihr solltet lieber denken: ‚Ich bin Shiva, ich bin Gott, ich bin der
Friede selbst, ich bin Liebe, ich bin Glückseligkeit, reine Seligkeit, die kein
Ende hat‘ „, besiegelt Sai Baba115 und tröstet uns: „Ich ziehe euch nicht zur
Rechenschaft für etwas, das nicht in eurer Macht steht. Eure Unzulänglichkeit
ist für mich kein Hindernis.“116

Die Wirkungen einer Handlung als »naturgesetzliche« Konsequenz allen
Handelns zu akzeptieren, ist etwas anderes, als daraus eine Schuld uns
selbst gegenüber abzuleiten:
„Das Ego hat keine Kontrolle über den Input“, sagte Ramesh Balsekar, „und
hatte sicherlich keine Kontrolle über die Programmierung, die offensichtlich
eine biologische oder mechanische Reaktion ist. Und doch hält das Ego diese
Reaktion für seine eigene Aktion.“117

Wen bitten wir also, „uns unsere Schuld zu vergeben“? Letztlich doch nur
diejenigen, denen wir im weltlichen Sinn durch unser
konventionswidriges Verhalten geschadet oder die wir gekränkt haben.
Ein Gebet mit der Bitte um Vergebung können wir nur an unser wahres
Selbst richten, wissend, dass es dieses wahre Selbst »selbst« ist, das als
letztlicher Veranlasser unseres Rollenspiels im umfassenden
Lebenstraum alle Handlungen in diesem Spiel, auch die

114 Ramesh S. Balsekar, Sin & Guilt, S. 74.
115 Sathya Sai Baba, Bhagavad Gītā, S. 72.
116 Sathya Sai Baba in: Nava Sarathi, Ausgabe Januar 2005, S. 33: „I dot not judge you for what is never yours, really. Your imperfection is no obstacle for me.“
117 Ramesh S. Balsekar, Sin & Guilt, S. 34.

»gebotswidrigen«, in Gang gesetzt hat. Die Schuld unseren Schuldigern
nicht nachzutragen, ist auf dieser Verständnisgrundlage beinahe
selbstverständlich, wenn wir wissen und akzeptieren, dass auch der
»andere«, der sich nur im konventionellen Sinn unserer
Gesellschaftsordnung schuldig gemacht hat, den umfassenden Prämissen
seines Lebenskonzeptes zu folgen hat.

3.3 Was wird wiedergeboren?

Da in allen Religionen Jenseits- oder Wiedergeburtsvorstellungen
vermittelt und weiter getragen werden, und sich immerhin eine gewisse
Anzahl besonders sensibler Menschen mehr oder weniger genau an
Nahtoderfahrungen oder vorangegangenes Leben erinnern kann, lohnt
sich – unabhängig von der jeweiligen Einstellung zur Frage »Tod und
Wiedergeburt« eine vertiefende Beschäftigung mit diesem Thema, um
bisherige Vorstellungen und Konzepte zu überprüfen und zu vertiefen.

Die christliche Kirche ist an der Wiedergeburtsfrage nicht sonderlich
interessiert. Bis auf wenige Reste im Johannes-Evangelium118 hat sie
Hinweise früher Evangelien auf Wiedergeburtsvorstellungen im Konzil zu
Nicäa (325 n.Chr.) aus den kanonischen Texten gestrichen. Zeitgenössische
Religionslehrer halten gar die Beschäftigung mit der Wiedergeburtslehre
für überflüssig:
„Sie (die Christen) meinen, dass der Mensch einmalig vor Gott ist und nur
einmal auf der Erde lebt. Um Heil zu erlangen, braucht der Mensch also nicht
mehrere ‚Anläufe‘, nicht eine weitere oder mehrere Wiederverkörperungen.
Gottes Gnade ist entscheidend. Daher ist es nicht erforderlich, dass der Mensch
sich auf Erden mehrmals ‚abstrampelt‘. Ein ewiger Kreislauf wäre sinnlos und
entmutigend.“119

Das Schlüsselwort für Christen heiße nicht »Wiedergeburt« sondern
»Auferstehung« zur Vollkommenheit des Menschen vor Gott:
„Das Wesentliche des Menschen, die Person, bleibt; das, was in dieser irdischen
Existenz leibhaftiger Geistigkeit und durchgeisteter Leibhaftigkeit gereift ist,
das besteht auf eine andere Weise fort. Es besteht fort, weil es in Gottes

118 Z.B. Johannes Evangelium, 3,3: „Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“
119 Schulze-Berndt, Ein Leben nach dem Tod?, S.. 19.

Gedächtnis lebt. Und weil es der Mensch selbst ist, der leben wird, nicht eine
isolierte Seele, darum gehört das mitmenschliche Element mit in die Zukunft
hinein; darum wird die Zukunft des einzelnen Menschen erst dann voll sein,
wenn die Zukunft der Menschheit erfüllt ist.“120

Anders in den östlichen Religionen: Sowohl im Buddhismus als auch im
Hinduismus steht das Thema »Wiedergeburt« an prominenter Stelle. Und
es wundert nicht, dass besonders viele am Buddhismus interessierte
Teilnehmer von den stets gut besuchten Belehrungen über „Tod, Bardo
und Wiedergeburt“ angezogen werden.

Einmal wegen der von den Lehrern angebotenen willkommenen Lösung,
zum Zeitpunkt des Todes einer völligen Vernichtung zu entgehen, um
nach einem »irgendwie« erlebten Zwischenzustand in zwar veränderter
Form, aber ansonsten unbeschadet, das heißt ohne Identitätsverlust in ein
weiteres Leben treten zu dürfen.

Ein anderer attraktiver Aspekt der buddhistischen Wiedergeburtslehre ist
das existenzübergreifende Gesetz von Karma, den Handlungen und ihren
karmischen Wirkungen. Immer wieder wird im »Volks-Buddhismus« von
heilsamen Handlungen als Voraussetzung für gute (persönliche)
Wiedergeburten und von unheilsamen Handlungen als Voraussetzung für
nachfolgende (ebenfalls persönliche) Wiedergeburten in niederen
Existenzbereichen gesprochen:
„Wenn du dein vergangenes Leben kennen willst, dann schau dir deine
gegenwärtigen Umstände an. Wenn du dein zukünftiges Leben kennen willst,
dann schau dir dein gegenwärtiges Handeln an.“121

Äußerer Ausdruck dieser Vorstellungen ist die in vielen tibetischen
Klöstern zu findende Darstellung als »Rad des Lebens« mit seinen
Wiedergeburtsbereichen der Höllen, Sphären der Hungergeister,
Bereichen der Tiere, Halbgötter und Götter und letztlich im wertvollsten
Bereich, dem der Wiedergeburt in menschlicher Form. In einem äußeren
Kreis werden die Wirkzusammenhänge für das Bedingte Entstehen
dargestellt, nach dem – im unerlösten Zustand – ein jeweils

120 Joseph Kardinal Ratzinger, Einführung in das Christentum, S. 335.
121 Padmasambhava, zitiert nach: Sogyal Rinpoche, Der Tod aus tibetisch-buddhistischer Sicht, in: Im Spiegel des Todes, S. 24.

vorangegangener geistiger Impuls den nachfolgenden geistigen Zustand
bedingt und damit das Rad der Wiedergeburten in Schwung hält.122

Das Totenbuch der Tibeter schildert den Weg einer wie auch immer zu
definierenden »Einheit« durch die Zustände des Bardo von der
detaillierten Erläuterung des Sterbevorgangs bis zur Wiedererlangung
einer neuen körperlichen Existenz.

Der Sterbeprozess beginnt auf der grobkörperlichen Ebene der Form, des
Empfindens, der Wahrnehmung und der Unterscheidung. Die
schrittweise Auflösung dieser Skandhas, verbunden mit dem Verlust von
Körperfunktionen, Lebenskraft und Wahrnehmungsfähigkeit, kann vom
informierten Sterbenden, aber auch von Sterbebegleitern miterlebt
werden. Das Verständnis dieser Vorgänge ist wesentlicher Bestandteil der
buddhistischen Kultur, das Sterben als Teil des Lebens anzunehmen und
Angst erzeugende Verdrängungen zu vermeiden.

Das Ende dieses äußerlich erkennbaren Prozesses wird nach westlicher
Vorstellung als klinischer Tod bezeichnet. Nach buddhistischer
Anschauung schließt sich ein innerer Prozess der Auflösung subtiler
Bewusstseinsschichten in immer feinere Ebenen des Bewusstseins an, der
vom Sterbenden mit verschiedenen Lichterscheinungen erfahren werden
kann und der mit dem völligen Verlust jeder Bewusstheit endet. Erst nach
diesem »Blackout« tritt der Sterbende in eine Phase des „Klaren Lichtes des
Todes“, die – frei von allen dualistischen Erscheinungen und Konzepten –
über einen kürzeren oder bei entsprechender meditativer Vorbereitung
auch längeren Zeitraum erfahren werden kann. Erst wenn dieses Stadium
beendet ist, ist man nach buddhistischem Verständnis gestorben.

Die sich anschließende Wanderung des subtilsten Bewusstseins durch
verschiedene Bardozyklen und die Suche dieses »Bardowesens« nach einer
Wiederverkörperung wird detailliert und bildhaft beschrieben:
„Für ein gewöhnliches Wesen stellt der Prozess der Wiedergeburt eine
unkontrolliert verlaufende Kettenreaktion dar, die von den karmischen Samen
und den gewohnheitsmäßigen und erlernten psychischen Verhaltensmustern
angetrieben wird.

122 Vgl. Dalai Lama, Die Lehre des Buddha vom Abhängigen Entstehen, S. 18ff.

Völlig unvorbereitet im Hinblick auf die geistige Situation, der sie sich nach
dem Sterben ausgesetzt sieht, verfällt eine ungeübte Person in einen
zeitweiligen Zustand von Verwirrung und Entsetzen.
Unfähig, die aufkommenden Bewusstseinszustände zu erkennen und darauf
angemessen zu reagieren, wird das Wesen sich auf die Suche nach einem
Mutterschoß machen, wodurch es seinen Ängsten zu entfliehen hofft. Es wird
so lange umherirren, bis als Resultat seiner vorherigen Handlungen der Bereich
und die Umstände gefunden sind, die dem spirituellen Reifegrad und den
karmischen Kräften entsprechen.“123

Aber, auch nach einer solchen Schilderung des Sterbe- und
Wiedergeburtsvorgangs aus buddhistischer Sicht bleibt die eingangs
gestellte eigentliche Frage unbeantwortet: Wer oder was trennt sich im
Tod wovon?

Die Ausgangssituation ist einfach: Es gibt nur zwei mögliche Konzepte
zur Wiedergeburtsfrage: Entweder es gibt Wiedergeburt ? in welcher Art auch
immer – oder es gibt sie nicht. Und es gibt nur zwei Einstellungen zur Frage
der Wiedergeburt: Ich glaube an eine Form von Wiedergeburt oder nicht. Aus
der Kombination beider Aussagen ergeben sich logischerweise vier
Alternativen:

1. Es gibt keine Wiedergeburt, und ich glaube nicht daran.
Ich lebe dieses Leben in seiner von mir so verstandenen Einmaligkeit und
mache mir keine Hoffnungen auf ein „Danach“. Worauf sollte ich auch hoffen,
wenn es keine Wiedergeburt gibt? Muss ich aber dennoch in Sorge um eine
endgültige Auslöschung meines Ichs leben?

2. Es gibt keine Wiedergeburt, doch ich glaube an Wiedergeburt.
Ich richte meinen Lebenslauf auf ein Leben nach dem Tod aus und sterbe in
der Hoffnung auf eine sinnvolle Fortsetzung meines Seins. Auch wenn diese
Fortsetzung nicht stattfindet, mein Glaube daran gibt mir Trost und Hoffnung.

3. Es gibt Wiedergeburt, aber ich glaube nicht daran.
Weil ich eine Wiedergeburt bezweifle, verpasse ich die Möglichkeit, mich zu
Lebzeiten auf Chancen und Risiken einer Fortsetzung des Lebens einzustellen.
Was immer danach kommt, trifft mich unvorbereitet.

4. Es gibt Wiedergeburt, und ich glaube daran.

123 Dalai Lama, Gesang der inneren Erfahrung, S. 51.

Meine Leben bekommt eine neue Sichtweite: Es lohnt sich, darüber
nachzudenken, wie eine Fortsetzung des jetzigen Lebens aussehen könnte und
wie ich mein Leben auf diese Perspektive ausrichten könnte. Ich sterbe in der
Gewissheit dieser Kontinuität und erspare mir unnötige Verlustängste im
Sterbeprozess.

Erste Annäherung: Die Wiedergeburt „in persona“?
Freilich, mein anfänglich simples Verstehen der Wiedergeburt und die
Verheißung, als Individuum fortzubestehen und am Wiedergeburtsgeschehen
mitzuwirken, wurde nachdrücklich von der Art und Weise
geprägt, in der mehr oder weniger alle buddhistischen Lehrer unser
Verstehenwollen und – angepasst an unsere Alltagssprache unsere
diesbezüglichen Konzepte unterstützen. Sie bleiben, aus welchen
Gründen und Motiven auch immer, seltsam vage; und sie bleiben eine
eindeutige Antwort schuldig:
„Es wird kein neues Bewusstsein geboren, und kein Bewusstsein wird jemals
zerstört. Jedes Bewusstsein taucht irgendwie wieder auf. Darum gehen wir
beständig von Leben zu Leben, alle von uns, dieselben Wesen, seit anfangloser
Zeit.“124
„Der Tod bedeutet nicht, dass wir uns vom subtilsten Bewusstsein trennen.
Das subtilste Bewusstsein trägt alle Existenzen, es ist unsere Basis. Das
subtilste Bewusstsein selbst bleibt, was es immer war.
Das subtilste Bewusstsein ist die Basis für die Identifikation, während Körper
und Geist in der gröberen Form wie ein vorübergehendes Hilfsmittel sind.“125

Oder sie umschiffen eine eindeutige Aussage, indem sie
– einerseits den Übergang von einem Leben in ein nächstes so schildern,
als ob die Person ihn »irgendwie unbeschadet« überstehen könnte:
„Die individuelle Person existiert immer, in der Gegenwart, der
Vergangenheit und in der Zukunft.
In Wirklichkeit endet das Leben einer Person nicht mit dem Tod dieses Lebens,
sondern geht im Gegenteil weiter, weil der Strom des Bewusstseins
fortdauert.“126

124 Gelek Rinpoche, Reinkarnation, in: Chökor, Ausgabe 32, S. 19. Unterstreichung vom Verfasser.
125 Dagyab Kyabgön Rinpoche, Tod, Bardo, Wiedergeburt, in: Chökor, Ausgabe 34, S. 7ff.
126 Gonsar Rinpoche, Skript Lam Rim, S. 92f.

– andererseits und richtigerweise auf das abhängige Bestehen der Person
verweisen:
„Wenn wir sagen, dass eine Person, ein Individuum, weiterlebt, heißt das nicht,
dass es eine inhärent existierende, unabhängige, ewige Person in uns gibt, die
immer da ist und immer bleiben wird.
Es gibt nicht etwas, das ewig und unabhängig ist, so wie ein Selbst oder ein
Individuum in uns, das bleibt, das einen Körper ablegt und einen neuen Körper
annimmt, so wie man Kleider wechselt. So etwas, das ewig da ist, gibt es
nicht.“127

Da die buddhistischen Meister schließlich genau wissen und in ihre
Gedanken einbeziehen, dass es auf der Grundlage der Ich-Losigkeit der
Person ein vereinfachendes Konzept von persönlicher Wiedergeburt gar
nicht geben kann, vermute ich, dass sie aus Mitgefühl, um unsere
existentiellen Verlustängste zu beschwichtigen, und aus unserem Mangel
an Verständnis der letztlichen Seinszusammenhänge diese anfänglichen
Konzepte bedienen.

Auch wenn von der Nicht-Fortsetzung der Person die Rede ist und
gleichzeitig die Fortsetzung des Geistes – als konstituierende Grundlage
der Person – in seiner veränderlichen Natur herausgestellt wird, muss das
nicht widersprüchlich sein:
„Der Geist nimmt von Augenblick zu Augenblick einen neuen Zustand an.
Wir können konkret beobachten, wie jeder Geisteszustand in einen neuen
Geisteszustand übergeht, dieser wieder in einen neuen und so fort.
Dieser Prozess geht auch über den Tod hinaus weiter. Das heißt, der Geist im
Tod wandelt sich in einen Geist nach dem Tod und schließlich in den Geist
einer neuen Existenz, wobei die verschiedenen physischen Grundlagen, die
dann vorhanden sind, den Körper des neuen Wesens bilden. So setzt der Geist
sich immer weiter fort und nimmt dabei die unterschiedlichen Körper der
verschiedenen Daseinsbereiche an.“128

Zweite Annäherung: Die Fortsetzung der getäuschten Vorstellung?

127 Ebd.
128 Geshe Thubten Ngawang, Tod – Bardo – Wiedergeburt, in: Im Spiegel des Todes, S. 164.

Die Kernfrage »Was überlebt« bleibt; sie verändert aber ihren Blickwinkel
und konzentriert sich nun darauf, ob es statt einer Fortsetzung der
individuellen Person die Fortsetzung einer getäuschten Vorstellung von
einer separaten Identität über die Abfolge von Existenzen hinweg geben
könnte?

Alvin Drucker sieht die Brücke zwischen einem scheinbaren Fortbestehen
der Individualität einerseits und dem letztlichen Fehlen einer Identität der
Person andererseits darin, dass die vom »Ich«-Gedanken ausgehenden
täglichen Abenteuer unseres jetzigen Lebens ebenso von Traumgestalten
erlebte Traumereignisse sind, wie die eines »Serientraums der Seele«129,
der sich von einem Leben zum anderen fortsetzt:
„Mit dem Tod endet der spezielle Serientraum dieses Körpers in dieser
Inkarnation; er wird nicht wieder aufgenommen oder fortgesetzt.
Trotzdem geht das Kreisen durch die Zustandsformen des Bewusstseins
unvermindert weiter, mit anderem Inhalt. Wenn auch die Serien-
Lebensabenteuer eines speziellen Körpers ein Ende gefunden haben, gibt es doch
einen anderen Serientraum, der sich über einen weitaus größeren zeitlichen
Rahmen erstreckt. Dies ist der sich fortsetzende Serientraum der Seele.
Die Seele scheint eine Folge von jeweils individuellen Inkarnationen in
aufeinander folgenden Leben anzunehmen, welche durch den roten Faden der
Seelenkontinuität miteinander verbunden sind.“130

Sowieso könnte eine solche »Seelenkontinuität« nur auf der Grundlage
einer Kontinuität der Erinnerung erfahren werden, bei der ein
vorangegangener Augenblick von »Ich«-Erfahrung, aham vritti, den
nachfolgenden Augenblick dieser Erfahrung prägt. Wenn das
Erinnerungsvermögen an diesen »Ich«-Gedanken aber – anders als im
Tiefschlaf oder bei einem krankheitsbedingten Verlust der

129 Alvin Drucker, Erwachen zur Wahrheit, S. 5.
130 Alvin Drucker, a.a.O., S. 14f. Der Begriff »Seele«, griechisch »psyché«, ist vieldeutig und verwirrend. Neben seiner Bedeutung als Eigenart und Wesen – eine ‚gute Seele‘ -, als Gemütsart – ein ‚ Seelchen‘, wird mit ihm in westlicher Auslegung vorrangig das Wesentliche eines Menschen bezeichnet, das, was nach dem Tod auf einer
‚Seelenwanderung‘ vor das Jüngste Gericht Gottes tritt. Der Terminus »Seele« ist für Inkarnationsvorstellungen im Buddhismus und in den vedischen Schriften weniger geeignet, zum einen, weil die groben Aggregate der Person, »Körper« und »Geist«, mit dem Tod vergehen, und andererseits, weil der diese Aggregate belebende ātman
ungeteilte, eigenschaftslose Wahrheit ist und für die Verbindung einer Person zu einem anderen »Serientraum« nicht infrage kommen kann.

entsprechenden physischen Hirnfunktion – im Todesprozess als Teil des
gröberen Bewusstseins »innerlich« verloren ginge – »Blackout« -, müsste
zwangsläufig auch die erinnerte Verbindung zur verstorbenen Person
verloren gehen.
„Wenn wir sterben, sterben alle Erinnerungen, die wir in diesem Leben
gesammelt haben, völlig. Wenn wir wiedergeboren werden, entwickeln wir ein
neues Gedächtnis. Aber tief in uns ist das Karma als Grundcharakter oder
Veranlagung verankert.“131

Mit der Vorstellung eines existenzübergreifenden »Serientraums«
bewahren wir uns zwar einen Kern individueller Sequenz, wenn auch
bereits in stark eingeschränkter Qualität. Das Kreisen des Bewusstseins
geht weiter; unsere wahre Natur und die mit ihr verbundenen Ketten
erworbener psychischer Qualitäten und Tendenzen suchen und finden im
Nachtodprozess ihren geeigneten psychischen und biologischen
»Nachfolger«.

Dritte Annäherung: Nicht die Person, die Qualitäten leben weiter?
Auch wenn es der »Nachfolgeexistenz« gelingen sollte, Erfahrungen eines
»Vorgängers« zu erinnern, in sich wachzurufen und sich in getäuschter
Ich-Vorstellung als vermeintlich »wiedergeboren« zu erleben, muss
dennoch sorgfältig unterschieden werden zwischen der Vorstellung der
Wiedergeburt einer Person in identischer Kontinuität und dem
Wiedergeburtsprozess als solchem:
„Das ist ein allgemein gültiges Gesetz“ sagt Krishna zu Arjuna. „Die
Gesamtsumme aller Gedanken und Empfindungen während deiner ganzen
Lebensspanne verdichtet sich zum Zeitpunkt deines Weggangs aus dem Körper
zu einem einzigen Geisteszustand. Du132 nimmst im Augenblick des Todes eine
individuell ausgeprägte geistige Grundverfassung an. Alles, was deine
Aufmerksamkeit das ganze Leben über stark beschäftigt hat, wird im Moment
des Todes unausweichlich dein Bewusstsein ausmachen – und in diesen
geistigen Bereich wirst du dich auch nach dem Tod begeben. Einige Zeit später

131 Sogyal Rinpoche, Das Überleben des Bewusstseins, in: Im Spiegel des Todes, S. 224.
132 Das Personalpronomen „Du“ ist irreführend, da sich von den Erfahrungsgrundlagen der Person weder der vergängliche Körper noch die mit dem Tod vergehenden gröberen Schichten des Geistes zur Fortsetzung einer »Ich«-Vorstellung eignen.

wird dann eben jenes geistige Grundmuster wieder in die Welt hinein
manifestiert. Dies nennt man die nächste Geburt.“133

Wenn wir akzeptieren, dass die Person selbst – in ihrer Begrenzung auf ein
nominelles Erfahrungsobjekt – als »Träger« einer Wiedergeburt gar nicht
infrage kommen kann, könnte es schlussendlich bei den Vorstellungen
von Wiedergeburt weniger um die Fortsetzung der Individualität der
Person als um eine Fortsetzung der in der Individualität erworbenen
Qualitäten eo ipso gehen.
„Es gibt kein Subjekt der Wiedergeburt, das die Reihe der Existenzen durchläuft,
es gibt kein Seelenkontinuum. Beim Tode eines Wesens wandert nichts von dem
Sterbenden zu seiner nächsten Existenz über. Das neue Wesen ist mit seiner
Vorexistenz weder voll identisch noch von ihr unabhängig. Was die beiden
Existenzen verbindet, ist ein Konditionismus: Das Werden der neuen
Daseinsform wird in Gang gesetzt durch die von der Vorexistenz ausgehenden
Impulse. Da alles Existierende konditional entstanden ist, kann es keine Seele
geben, da diese laut Definition dauerhaft ist, also seit jeher existiert haben
müsste. Die Daseinsfaktoren, die die Nachexistenz ausmachen, sind von der
Vorexistenz bedingt.“134

Konsequent unterscheidet der Buddha in seinen Lehrreden zwischen der
nicht existenten Kontinuität der Person – „Dass ich in der Vergangenheit
existiert hätte, (diese Meinung) ist nicht zutreffend. Denn was in der früheren
Geburt existierte, das ist nicht dieser (, der hier spricht)“ – und der Kontinuität
in der Konditionierung des subtilen Bewusstseins: „Was auch immer
konditional aus etwas entsteht, das ist mit jenem (Bedinger) nicht identisch und
nicht (völlig) von ihm verschieden. Darum ist es weder vernichtet noch
ewig.“135

Wie diese individuell ausgeprägten psychischen Qualitäten und
Tendenzen, Vāsanās, im Prozess der Wiedergeburten weiter getragen
werden, wird in den Schriften der buddhistischen Philosophie subtilen
Schichten des Bewusstseins zugeschrieben: Qualitäten und Tendenzen,
die sich aus Handlungen und Wirkungen des Lebensprozesses

133 Bhagavad Gita, zitiert nach Jack Hawley (Hrsg.), a.a.O., S.121. Unterstreichung vom Verfasser.
134 Lankavatara-Sutra, zitiert nach: Hans Wolfgang Schumann, Mahayana-Buddhismus, S. 32.
135 Lankavatara-Sutra, a.a.O., S. 67.

ansammeln, finden ihren Niederschlag in den subtilen Schichten des
Bewusstseins, die als Kontinuum des Geistes über dieses Leben hinaus zur
nächsten Existenz gehen. Wenn dieses Leben zum Ende kommt, wenn die
Abläufe des Todes eintreten, wird dieser subtilste Zustand des Geistes
freigelegt, kommen die Eindrücke, die im Kontinuum des Geistes abgelegt
sind, zur Wirkung und bestimmen die künftigen Erfahrungen der
Folgeexistenz.

Stehen diese Interpretationen im Widerspruch zu den Erinnerungen eines
Tulkus, eines verwirklichten buddhistischen Meisters mit bewusster
Erinnerung an »seine« Vorexistenz?

Auch hier gilt es, die umgangssprachlichen Vereinfachungen zu
vermeiden und genau zu erkennen, dass der Tulku – so wenig wie jeder
andere – in keiner personalen Identität zu seiner Vorexistenz steht. Er
kann sich aber aufgrund der Evolution seiner spirituellen Erfahrung an
Geschehnisse aus vergangenen, mit ihm über das Kontinuum des
Bewusstseins verbundene Existenzen erinnern, weil die ursprüngliche
Natur, die Weisheitserinnerung, die in ihm steckt, durch Schulung
wiedererweckt wird.136 Das gilt für den Tulku in gleicher Weise, wie es
zum Beispiel für Mozart als Musikgenie oder für jedes andere hochbegabte
»Folgewesen« zutrifft.

Das Erinnern an die im Vorleben erworbenen Qualitäten hängt stark von
der Intensität solcher Qualitäten ab: Ein verwirklichter Meister hat als
Ergebnis einer größeren Nähe zwischen dem Ego als Funktionszentrum
und seinen subtilen Bewusstseinsschichten mehr weiterzugeben als eine
Person, deren durchschnittliche Lebensqualität wenig Außerordentliches
entwickelt hat, an das sich ein »Folgewesen« erinnern könnte.
„Vom Standpunkt des Advaita gibt es keine (wahre) Individualität, auch wenn
der Körper (scheinbar) existiert, und gewiss wird es keine Individualität nach
dem Tod des Körpers geben“, meinte Ratan Lal, der kürzlich verstorbene
Advaita-Weise und Devotee von Sai Baba.137

Vierte Annäherung: Ist es ein anderes Ego, das wiedergeboren wird?

136 Text zum Video „Bardo Thödol, Das tibetische Totenbuch“, 1995.
137 Ratan Lal, Oneness of Divinity, S. 131: „From the Advaitic point of view, there is no individual even when the body exists, and there will certainly not be any individual after death of the body.“

Könnte man sich gar vorstellen, dass selbst die Fortsetzung individuell
angesammelter Eigenschaften unzutreffend sein könnte und man Ramesh
Balsekar zustimmen müsste, der auf die Frage, wer es denn sei, der die
Früchte seiner guten oder schlechten Taten erntet, klipp und klar
antwortet:
„Es ist ein anderes Ego in einem anderen Körper.
Die Persönlichkeit des zukünftigen Körpers kommt von der Gesamtheit des
Universellen Bewusstseins, das eine Ansammlung all der »Wolken von Wesen«
ist, die fortlaufend erzeugt werden. Diese gesamte Ansammlung wird auf die
neuen Körper verteilt, die erschaffen und mit bestimmten
Charaktereigenschaften versehen werden und durch die genau die Handlungen
geschehen werden, wie sie im Drehbuch des Göttlichen Spiels stehen. Kein
Individuum hat als Individuum irgendetwas mit einem früheren Wesen zu
tun.“138 und: „Solange du glaubst, du selber seiest der Handelnde, solange
glaubst du an Reinkarnation.“139

Diese krasse Formulierung wirkt auf mich wie ein zen-buddhistisches Koan,
das es nicht intellektuell zu verstehen gilt, sondern das mit seinem
beabsichtigten Schock auf das intellektuelle Verstehenwollen eben diese
intellektuelle Barriere durchbrechen will.

Denn auch Ramesh Balsekar schrieb an anderer Stelle, dass es
„notwendigerweise eine Kontinuität geben muss zwischen der Form, die stirbt,
und der neuen Form, die geboren wird, weil die Evolution fortschreiten muss
und die Natur nicht jedes Mal ganz von vorne anfängt. Aber es besteht für ein
konzeptuelles Individuum kein Grund, sich mit einer Serie von Leben in der
zeitlichen Manifestation zu identifizieren.“140

Resümee: Was wird und was wird nicht wiedergeboren?

· Es gibt keine Fortsetzung der Person über den Tod hinaus, auch nicht
in einer wie auch immer definierten subtilen »Form«. Die Person als
nominelles Objekt ist von den sie konstituierenden Aggregaten der
Form und des Geistes abhängig. Diese ihrerseits bieten in ihrer

138 Ramesh S. Balsekar, Wen kümmert’s, S.97.
139 Shirish S. Murthy, Vom Bewusstsein getroffen, S. 122.
140 Ramesh S. Balsekar, Die Lehre erleben, S. 55.

Unbeständigkeit keine Grundlage für ein Überleben über den Tod
hinaus. Es bleibt bei der konsequenten Feststellung, dass, wenn es
schon in diesem Leben kein inhärentes Bestehen der Person geben
kann, sich diese »Nicht-Person« auch nicht über mehrere Existenzen
als identisch erleben kann. Die sich als autonom empfindende »Ich«-
Vorstellung kann nicht wiedergeboren werden, weil sie schon zu
Lebzeiten nicht autonom existierte.

· Es kann auch keinen »Serientraum«, keine existenzübergreifende
Fortsetzung der getäuschten Vorstellung von einer vermeintlich
separaten Identität geben, weil es an der hierfür erforderlichen
Erinnerung in Form der »Ich«-Erfahrung mangelt, die als antahkarana,
als Wirkkraft, Teil des mind ist, und der mind selbst, als Teil des
gröberen Bewusstseins, den Todesprozess nicht übersteht.
Die in Brahman, dem wahren und nicht-dualen Einen, in göttliche
Dualität ausgedehnte Erscheinung – „Ich bin“ – erträumt
»Lebensträume« – „Ich bin dieses“ – und konditioniert mit den
Erfahrungen eines solchen »Lebenstraumes« die Eigenschaften eines
nachfolgenden »Lebenstraumes«. Bedarf es in einem solchen
Erklärungsansatz einer individuellen psychischen »Grundlage«, um
Eigenschaften von einer (geträumten) Existenz zur nächsten zu
transportieren?

· Es bleibt denkbar, wenn auch schwer vorstellbar und annehmbar,
dass sich Die Quelle sozusagen in wahllosem Schöpfen aus der
Gesamtheit des Universellen Bewusstseins jeweils von neuem in die
„Dramaturgien spezifischer Lebensträume“ ausdehnt.

· Und es bleibt die Möglichkeit, dass die von den Vorexistenzen in
Gang gesetzten Qualitäten und Tendenzen, Vāsanās, als psychische
Potentiale auf eine neue Daseinsform übergehen, und sich ein
»Nachfolger« – je nach seiner spirituellen Evolution – an solche
Qualitäten erinnern kann und an diese anknüpfen kann. Gott, der
göttliche Wille, wird die Erfahrungen und Qualitäten, die diese Person
in diesem Leben erlebt, nach deren Tod in einer anderen
Widerspiegelung seiner selbst aufleben lassen, und jene »neue«
Person wird solche Erfahrungen und Qualitäten fortsetzen – so wie es
dem umfassenden göttlichen Plan entspricht. In einem, nicht in
meinem früheren Leben wurden diese Qualitäten angesammelt!

Wenn Sai Baba beispielsweise davon spricht, dass wir alle schon
unzählige Male wiedergeboren wurden141, muss sorgfältig beachtet
werden, welche Wahrnehmungsebene angesprochen wird: Aus der Sicht
des Individuums bleibt die Wiedergeburtsvorstellung eine vorläufige
Denkhilfe, die sich auf dem Weg vervollkommnen wird; aus der Sicht des
Einen, das sich in einer Vielzahl seiner Abbilder manifestiert, wird dieses
göttliche Bewusstsein vielfach und vielfältig wiedergeboren, um sich in
der Fülle aller Erscheinungsformen erleben zu können.

Zwischen den Möglichkeiten

– der Fortsetzung einer getäuschten Vorstellung von Individualität ?
wenn sich diese Vorstellung denn über den Existenzwechsel »retten«
könnte,

– der Möglichkeit des wahllosen Schöpfens aus der Gesamtheit des
Universellen Bewusstseins und

– der Möglichkeit einer unpersönlichen, aber qualitativ spezifischen
psychisch-spirituellen Evolution

hänge ich nun und suche nach einem Weg, um die »Dramaturgie des großen
universellen Lebenstraums« für mich zu begreifen. Und versuche erneut – als
eine von den Myriaden von Widerspiegelungen der Wahrheit – die Quelle
zu verstehen, was, wie schon festgestellt, einfach nicht möglich ist!

Denn auch die ausgefeilteste intellektuelle Vorstellung über den »wahren«
Charakter des Todes und der Wiedergeburt bleibt ein Konzept und ist
damit als Teil des Intellektes auch Teil der gesamten getäuschten
Wahrnehmung der Phänomenalität:
„Tiefes Verstehen kann nicht aus intellektuellem Erfassen sondern nur aus
einer vollständig anderen Dimension kommen. Intellektuelles Erfassen ist Teil
der Phänomenalität, während die erforderliche Dimension der Wahrnehmung
eine andere sein muss, das heißt, sie muss noumenal sein. Individuelles
Verstehen muss sich selbst verlieren und in noumenalem Erfassen oder

141 Beispielsweise in seiner Shivarātri-Ansprache vom 26. Februar 2006: . „Ihr seid nicht zum ersten Mal hier. Die Erde ist für euch nicht neu. Bevor ihr diese Geburt als Mensch erlangt habt, seid ihr durch viele Leben gegangen“.

Wahrnehmen aufgehen, in dem das Individuum als solches nicht mehr
vorkommt und das Ego ausgelöscht ist“, sagte Ramesh Balsekar.142

Eine mögliche Antwort: Wen kümmert’s!
Das Festhalten an einem wie auch immer verfeinerten Konzept von
Wiedergeburt stellt ein ähnliches Hindernis auf dem Weg zur
Selbsterkenntnis dar wie die Vorstellung von einer eigenmächtig
handelnden Person, wie sie auf der Grundlage einer getäuschten
Identifikation mit dem Körper-Geist-Instrument erfahren wird.
Tatsächlich reihen sich geträumte Leben aneinander wie bunte Perlen auf
der Halskette von Māyā. Was sind da Wiedergeburten? Was wird da
wiedergeboren? Als Person bin ich nichts als ein Gedanke Gottes, der
aufsteigt und vergeht; als Gedanke Gottes – im Bewusstsein Gottes selbst –
bin ich Teil des Göttlichen und damit alles und ewig.

Brauche ich demnach überhaupt eine Antwort auf die Frage des
Überlebens als Person? Wer will es denn wissen? Hat der Fragesteller, das
Ego, das »kleine Ich«, eine Chance, sein derzeitiges getäuschtes Verstehen
von sich und der Welt über den physischen Tod hinaus zu retten?
„Das Ich hat in Wirklichkeit keine Substanz“, meint Willigis Jäger. „Es
besteht aus erlernten Konstrukten und ist lediglich ein Funktionszentrum, das
von unserem eigentlichen Wesen wie ein Instrument benützt wird. Es wird mit
unserem Tod untergehen.“143
„Was bleibt, ist nicht notwendigerweise eine individuelle oder personale
Struktur, wie sie sich der Mensch vorstellt. Es ist eine neue Seinsweise. Das
gleiche göttliche Leben offenbart sich in einer neuen Struktur. Ob diese eine
Verbindung mit der vorausgehenden Form behält, ist für mich unwichtig.
Wiedergeboren wird immer nur dieses Urprinzip Gott. Ganz gleich in
welcher Form wir eventuell wiederkommen, es ist immer eine Form Gottes.“144

142 Ramesh S. Balsekar, Peace and Harmony in Daily Living, S. 201f: „Deep understanding cannot come out of an intellectual comprehension but only out of a totally different dimension. Intellection is part of phenomenality and the required dimension of apperception must be other than phenomenal, that is to say, it must be noumenal. The individual comprehension must lose itself and merge itself into noumenal apprehension or apperception in which the individual no longer exists as such and the ego is annihilated.“
143 Willigis Jäger, Die Welle ist das Meer. S. 35.
144 Willigis Jäger, Wiederkehr der Mystik, S. 123.

Auf der Suche nach einem Ausweg aus diesem »Wiedergeburts-
Dilemma« fragte ich den Advaita-Meister Ramesh Balsekar um Rat, was
denn nun wirklich „übergehe“. Seine erstaunliche, gleichzeitig praktische
Antwort lautete:
„Mein Punkt ist: Wenn es »irgendetwas« geben sollte, das von Körper zu Körper
geht, warum sollte es mich beunruhigen? Irgendetwas geht von Körper zu
Körper; lass es gehen!
Warum sollte sich ‚Klaus‘ darum kümmern? In einem vorangegangenen Körper
war ‚Klaus‘ nicht vorhanden. In einer zukünftigen Inkarnation wird ‚Klaus‘
nicht da sein. Also warum sollten sich ‚Klaus‘ und ich darum kümmern? Wir
brauchen uns nur um das zu kümmern, was in diesem Leben geschieht.
Mein Problem, Klaus, ist ganz einfach: Müsste ich doch, wenn ich in ‚meinem‘
nächsten Leben ein halbwegs gutes Leben haben möchte, in diesem Leben sehr
viel Disziplin beachten. Also, wenn es um einen Transfer von Eigenschaften
gehen sollte, lass es geschehen.
Das Einzige, worum ich mich kümmere, ist das Ego in diesem Körper-Geist-
Organismus. Und was ist der Grund? Weil es mir Frieden in diesem Leben
schenkt und nicht im nächsten.“145

Todesangst
Können wir die kühle Sachlichkeit, mit der wir hier den Tod in seiner
einschneidenden Wirkung auf die Person sezieren und allenfalls
intellektuell akzeptieren, auch emotional verkraften? Bleibt nicht die
berechtigte Angst des Ichs vor dem Tod, die Angst als Ergebnis des
Wunsches zu überleben und die »eigene« Identität fortbestehen zu lassen?
„Das Ich wird sich auflösen, obwohl es dafür geschaffen ist, eine solche
Auflösung des Lebens zu verhindern. Es ist geschaffen für die Dynamik des
Lebens, es ist kulturschaffend und kreativ. Das Ich kann unmöglich so tun, als
habe es keine Angst vor dem Tod. Die Angst vor dem Tod kann nur mit dem
Ich gemeinsam zurücktreten ? nämlich dann, wenn der Mensch in der
mystischen Erfahrung aus dem Ich-Bewusstsein hinaus in den transpersonalen
Bereich gelangt und dort die Erfahrung der nicht mehr bezweifelbaren Einheit
macht.“146

145 Ramesh S. Balsekar in einem persönlichen Interview in Bombay vom 3. Oktober 2003.
146 Willigis Jäger, Die Welle ist das Meer, S. 179.

Warum fällt es uns so schwer, den Tod und damit das Ende der »Ich-
Illusion« zu akzeptieren? Das Ich (die Person) kann nicht sterben, weil es
als »Ich Illusion« zwar wirksam, aber niemals wirklich existierte. Und das
Selbst, das dieses Ich belebt („empowers“), kann nicht sterben, weil es ewig
ist, nie geboren wurde und als ewiger Zeuge in uns ? als Atman ?
unsterblich ist
„Offensichtlich muss das, was »geboren« wurde, zu seiner festgesetzten Zeit
sterben“, sagte Nisargadatta Maharaj, nachdem er die Diagnose seiner
schweren Krebserkrankung erfahren hatte. „Zur angemessenen Zeit wird
das »Material«, das der Ursprung dieses bestimmten psychosomatischen
Apparates ist, verfallen und als »tot« bezeichnet werden. Das Bewusstsein wird
aus dem »Apparat« entlassen und sich mit dem innewohnenden,
allesdurchdringenden Bewusstsein mischen. ‚Und ich?‘ Es gab niemals ein
»Ich«, es kann niemals ein »Ich« geben. »Ich« als das Absolute war immer
anwesend. Tatsächlich wird meine relative Abwesenheit meine absolute
Anwesenheit sein und der Moment des »Todes« wird der Moment höchster
Ekstase sein, die letzte sinnliche Wahrnehmung des psychosomatischen
Apparates.“147
„Die grundlegende Ursache der Verwirrung ist der Irrglaube, dass es eine
Wesenheit, eine autonome, objektive Wesenheit gäbe, der die Ereignisse –
»Geburt« und »Tod« genannt – und die Dauer zwischen den beiden – »Leben«
genannt – widerfahren. In Wirklichkeit sind das rein konzeptuelle Bilder im
Bewusstsein, die so wenig Substanz haben wie die Bilder auf dem
Fernsehbildschirm oder die Bilder in einem Traum.“148

Natürlich ängstigt uns der Tod, weil wir unablässig auf eine vermeintlich
wirkliche Kontinuität und Dauerhaftigkeit bauen und folglich von der
Verlustangst des Sterbens aus dem Gleichgewicht geworfen werden.
„Völlig unnötig“, meinte Ramesh Balsekar. „Warum machst du dir
Gedanken über den Tod? Er kann im nächsten Moment eintreten oder erst in
zwanzig Jahren. Wenn er kommt, für wen spielt das eine Rolle
Wenn man wirklich versteht, dass es nur einen Körper-Verstand-Organismus
gibt, durch den Gott wirkt, dann muss sich niemand vor dem Tod fürchten.
Alles in der Manifestation verändert sich. Was ist jenes, das unveränderlich

147 Ramesh S. Balsekar, Pointers, Wegweisende Gespräche mit Sri Nisargadatta Maharaj, S. 182.
148 Ramesh S. Balsekar, Pointers, Wegweisende Gespräche mit Sri Nisargadatta Maharaj, S. 192.

ist? Das kann nur Bewusstsein sein. Wenn ihr einmal wirklich verstanden
habt, dass es nichts gibt außer Bewusstsein, und dass alles, was geschieht, nur
eine Bewegung im Bewusstsein ist, werdet ihr dann den Tod noch fürchten?“149
„Eine Welle muss nicht sterben, um zu Wasser zu werden“, sagt Thich Nhat
Hanh, „sie ist Wasser, gleich hier und jetzt. Ebenso wenig müssen wir sterben,
um in das Reich Gottes einzukehren. Das Reich Gottes ist dasjenige, worauf
wir hier und jetzt beruhen.“150

Unser Sein im Jetzt berührt einen Aspekt des Phänomens »Zeit« in seiner
konventionellen Erscheinung und das subjektive Empfinden von Zeit. In
der wiederkehrenden Abfolge von Leben und Tod ist Zeit nur von
relativer Bedeutung: Was ist – bezogen auf die Vielzahl von Leben – der
Unterschied zwischen einem »vorzeitigen« Tod, beispielsweise durch
Unfall oder Krankheit, und einem Tod nach einem »erfüllten« Leben? Aus
absoluter Betrachtung ist Zeit ein phänomenaler Bestandteil der
Täuschung, nicht wirklich existent. Wir bleiben, was wir sind, das Selbst,
reines Bewusstsein in der Fülle seiner Potentialität oder – in seiner
Ausdehnung in die Erscheinungswelt Bestandteil eines zeitgebundenen
göttlichen Dramas.

Mit der Einsicht in die wahren Hintergründe des Lebens und des
Sterbens, „mit verwegenem Mut und dem Entschluss, dem Tod im Geist zu
trotzen“151 reduziert sich auf natürliche Weise das »Am-Leben-festhalten-
Wollen«, und das Leiden am Sterben verliert einen Teil seines Schreckens:
„Wenn ich sterbend von dem Gefühl durchdrungen bin: »Ich sterbe – aber es
stimmt«, dann hat der Tod keine Schrecken mehr, dann ist er das Durchschreiten einer der vielversprechenden Türen des magischen Theaters.“152

Nur, das Leiden im Sterben, die Furcht vor den körperlichen und
seelischen Schmerzen im Prozess des Sterbens, ist von anderer Art und
muss allemal erst verkraftet werden:

149 Shirish S. Murthy, a.a.O., S. 92.
150 Thich Nhat Hanh, Kein Werden, kein Vergehen, S. 119.
151 Hermann Hesse, Der Regenmacher, in: Das Glasperlenspiel, Küsnacht 1971, S. 505.
152 Paul Watzlawick, in: Watzlawick/Kreuzer, Die Unsicherheit unserer Wirklichkeit, S. 48

„Todesfurcht ist gänzlich verschieden von der Angst vor einem möglicherweise
schmerzhaften Prozess des Sterbens: Ersteres betrifft den Verlust an
Individualität einer Person, letzteres nur die physischen Schmerzen, die mit
dem Prozess verbunden sein mögen. Todesfurcht ist Furcht vor dem
Unbekannten und dem Unbegreiflichen, wohingegen die Furcht vor möglichen
Schmerzen im Prozess des Sterbens bekannt und im Erinnerungsvermögen
aufgezeichnet ist.“153

Gäbe es nur die archaische Verlustangst, sich im Sterbeprozess zu
verlieren, wie wäre dann ein offensichtlich ebenfalls vorhandener, tief
verwurzelter Todestrieb zu erklären, wie er sich in schwierigen
Lebenslagen zum übermächtigen Handlungszwang entwickeln kann?

In »Siddhartha« führt Hermann Hesse seinen Protagonisten Siddhartha aus
Überdruss an dessen bisherigem Leben an die Schwelle der Selbsttötung:
„Voll war er von Überdruss, voll von Elend, voll von Tod, nichts mehr gab es
in der Welt, das ihn locken, das ihn freuen, das ihn trösten konnte. Sehnlich
wünschte er, nichts mehr von sich zu wissen, Ruhe zu haben, tot zu sein.“ In
der von ihm empfundenen Aussichtslosigkeit, sah er nur noch „die tiefe,
leidvolle Sehnsucht, diesem jämmerlichen und schmachvollen Leben ein Ende
zu machen.“ In diesem Augenblick der Todesnähe und Todeserfahrung
geschah jedoch Erstaunliches: Siddhartha »erlebte« den „Klang des
Lebens, das heilige OM, das Vollkommene. Und er wusste um Brahman,
wusste um die Unzerstörbarkeit des Lebens“ – und erkannte die Torheit
seines beabsichtigten Tuns.154

Der Suizid – geächtet im Leben eines Christen, der mit der Selbsttötung
gegen göttliches Gebot verstößt, gefürchtet von den Buddhisten, die mit
der willentlichen Aufgabe der so schwer zu erreichenden »kostbaren
Menschengeburt« nachfolgende Höllenqualen zu vergegenwärtigen
haben, ja, denen selbst der bloße Willensimpuls, dieses Leben zu beenden,

153 Ramesh S. Balsekar, Peace and Harmony in Daily Living, S.217f: „The fear of death is totally different
from the fear of the possibly painful process of dying: the former is concerned with the loss of one’s
individuality, the latter only with the physical pain that the process might involve. The fear of death is the fear of the unknown and the unknowable, whereas the fear of the possible pain in the process of dying is known and recorded in memory.“
154 Hermann Hesse, Siddhartha, Montagnola 1953, S.73ff.

gleichermaßen unheilsam erscheint – ist im konventionellen Leben
weitgehend tabuisiert und führt zu Ausgrenzungen der Betroffenen.

Dennoch sind, abgesehen von der ethischen Seite einer konventionellen
Be- und Verurteilung, das tiefe Verstehen und das vorbehaltlose
Annehmen eines göttlichen Lebensplanes, in dem der Suizid als eine
vermeintlich willentliche Handlung vorgesehen sein sollte, letztlich nur
die konsequente Umsetzung, dass „Dein Wille geschehe“.

Wenn – anders als im (fiktiven) Lebensplan eines Siddhartha – eine
tragische Handlung wie die einer Selbsttötung vorbestimmt sein sollte,
wie kann dieses Geschehen den Betroffenen und ihren Nächsten als
schuld- und sündhaft nachgetragen werden?

3.4 Leiden ohne Ende?
„Geboren zu werden ist Sorge,
auf Erden zu leben ist Sorge;
die Welt ist Ursache für Sorgen und auch der Tod;
die ganze Kindheit bedeutet Sorgen und Alter ebenso;
Leben heißt Sorge; Scheitern heißt Sorge;
alle Handlungen und Schwierigkeiten bringen Sorgen;
Glück ist auch eine verschleierte Form der Sorge.“155

Ob wir das täglich in den Nachrichtensendungen mit zu verfolgende
Leiden nehmen, die schreckliche Naturkatastrophe des Tsunami in Asien,
die Gewalt im Irak und anderen Krisengebieten, das Leiden der
Aidskranken in Afrika, die Leiden unserer Zeit oder die Leiden der
Vergangenheit, die verheerenden Weltkriege des vergangenen
Jahrhunderts oder die Zeiten der Pest im Mittelalter, die »großen« Leiden
ganzer Völker oder das stille Leiden eines einzelnen, der eine ihm nahe
stehende Person verloren hat, das Hungern der Kinder in Armutsgebieten
oder die Hoffnungslosigkeit einsamer und alter Menschen, körperliche
oder psychische Leiden, – die Aufzählung der vielfältigen Formen des
Leidens scheint schier endlos zu sein!

Das allesdurchdringende Leiden

155 Sathya Sai Baba, Ansprache vom 25. Oktober 2004.

So wundert es nicht, dass der Buddha vor mehr als 2500 Jahren schon in
seiner ersten Lehrrede, im Sutra des „Ersten Drehens des Rades der Lehre“
im Wildpark bei Benares die „Edlen Vier Wahrheiten des Leidens“,

die Edle Wahrheit vom Leiden,
die Edle Wahrheit von der Leidensentstehung,
die Edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens und
die Edle Wahrheit von dem zur Aufhebung führenden Weg,

verkündet hat und diese zur gültigen Leitlinie für alle späteren
Ausprägungen des Buddhismus gemacht hat.
Mit der Wahrheit vom Leiden, duhkha, spricht er die vielfältigen Formen
des Leidens im Leben an,

– die Leiden des Leidens, die offensichtlichen Erscheinungen des Leidens,

– die Leiden der Veränderung, die subtileren Leiden, von Wünschenswertem
getrennt zu werden und mit Unliebem vereint zu sein,

– und das allesdurchdringende Leiden, die grundlegende Form des Leidens am
Leben, an der Unerkenntnis unseres wahren Wesens.

Als Ursachen dieser Leiden qualifiziert er die Wiedergeburt bewirkenden
Geistesgifte Gier, Hass und Verblendung. Die Aufhebung des Leidens
sieht er in dem Aufgeben eben dieser Leid verursachenden „kleshas“, und
der Weg, der zur Aufhebung des Leidens führt, der „Edle Achtfache Pfad“,
ist in erster Linie ein Übungsweg zur Aufhebung der Unwissenheit, die
durch aktives Bemühen zu überwinden ist.156
Hat der Weg zur Aufhebung des Leidens schlussendlich nur ein Ziel, so
sind die Etappen dieses Weges verschieden:
Auf dem Weg des Karma-Yogi erkennt dieser das Leiden in seiner
unerträglichen Vielfalt, empfindet im Hinblick auf die Ursachen des
Leidens Scham und Schuld, »entschließt« sich, sein Leben zu ändern, und
geht aus solchem Entschluss den Weg zur Aufhebung des Leidens: „Love
all, serve all“.

Nun ist aber das Leiden, wie es vom Bewusstsein wahrgenommen wird,
eine Erfahrung der körperlichen Sinne oder auch des »Denksinnes« – „der

156 Der Achtfache Pfad zur Leidensaufhebung: Rechte Ansicht, Rechter Entschluss, Rechte Rede, Rechtes Verhalten, Rechter Lebensunterhalt, Rechte Anstrengung, Rechte Achtsamkeit, Rechte Meditation.

eingebildete Kranke“ – und als solches an dieselben Wirklichkeitskriterien
gebunden wie die diese Leiden empfindende Person selbst. Wer leidet,
wer entscheidet sich, den Weg zur Aufhebung des Leidens zu gehen?

Der Weg des Jnāna-Yogi sieht daher anders aus: Dank des ihm zuteil
gewordenen Verständnisses erkennt der Jnāna-Yogi, dass alles Leiden in
der Welt seine Ursachen hat, er akzeptiert das Leiden, das durch Körper
und Geist erfahren wird, und er erahnt das letztendliche Freisein vom
Leiden als Heilung durch göttliche Gnade.

So einleuchtend logisch wie die Erklärungen zu den Ursachen und
Lösungswegen klingen mögen, so bleibt doch die Frage im Raum stehen,
warum die unerträglichen Leiden bis heute noch in ihrer Vielfalt
anzutreffen sind?

Zum einen sind nicht alle spirituell suchenden Menschen auf ein- und
demselben Weg, ihr Weg folgt den individuellen gunas, folgt ihren
Grundeigenschaften157:

– Der überwiegend tamasisch Veranlagte nimmt das Leiden als
unvermeidlich hin,

– der rajasisch gesteuerte Mensch ? wenn sich denn seine Energie auf
spirituelle Ziele richtet – will sich am Schopf selbst aus der Misere
ziehen,

– der sattvisch veranlagte Mensch folgt altruistischen Idealen, wie den
Bodhisattva-Idealen, und will alle Wesen aus dem Leid befreien, bevor
er die Erlösung für sich selbst sucht.

Und es gibt den Weisen, dem die Gnade der Erkenntnis zuteil wurde,
dass das Leben ein Traum ist und dass am Ende dieses Traumes die
Erfahrung stehen muss, dass es das Leiden nie wahrhaft gegeben hat.

Eine weitere Ursache fortgesetzten Leidens liegt im falschen, sprich
getäuschten Wahrnehmen von Glück und Leid: Unser Streben nach Glück
– und nach Leidvermeidung – beruht auf Konzepten von Glück, die als
psychische Tendenzen in dieses Leben hineingetragen wurden und die
wir als traumähnliche Lebenserfahrungen in einer getäuschten dualen

157 Gunas, die sich als charakterliche Eigenschaften auf der Grundlage geistiger Tendenzen, vāsanās, manifestieren und sich im Wahrnehmungsprozess als Tatabsichten, samskāras auswirken.

Scheinwelt zu verwirklichen hoffen, aber als dauerhaft glückliche
Erfahrung nicht finden können.
„Alle Manifestationen und dieses Geschehen, das wir Leben nennen, basieren
auf Dualität. Das Unmanifestierte, der Ursprung allen Lebens, offenbart sich
in der Vielfältigkeit der Manifestationen und die Basis dafür ist Dualität.“

Das Leben ist Bewusstsein und Energie in phänomenaler Aktion – und
somit unverbrüchlich und unvermeidbar Ausdruck polarer und
miteinander verbundener Gegensatzpaare. Das Gute ruft
notwendigerweise auch seinen Gegenpol, das Böse, auf den Plan. Das
Eine ist ohne das Andere nicht zu haben:
„Es gab nie eine Zeit, in der es keine schlechten Menschen gab, es gab nie einen
Moment, in dem es nichts Hässliches gab, es gab nie eine Zeit ohne behinderte
Babys. In jedem Moment sind immer beide miteinander verbundene Gegensätze
vorhanden.“158

Dualität erzeugt Spannung, Ablehnung, Ausgrenzung, sogar religiös
motivierte Ausgrenzung, und nachfolgend Hass und Gewalt.

Obwohl das Böse letztlich nur dualer, getäuschter, also unwirklicher Teil
des göttlichen Lebenstraumes ist, sind wir ihm bis zu einer direkten
Erfahrung der Wahrheit ausgeliefert und haben es in seinen Folgen
wirkungsvoll zu durchleiden. Die schreckliche Notwendigkeit, auch das
Böse – sei es in extremen Ausprägungen scheußlichster Verbrechen – als
göttliche Erscheinung anzunehmen, kann nur durch ein vorbehaltloses
Verstehen erleichtert werden, dass selbst »der das Böse Erfahrende«
Teilnehmer dieses zwar wirksamen aber nicht wirklichen,
traumähnlichen Geschehens im göttlichen Bewusstsein ist, das er als
Ausdruck einer ganzheitlichen Lebensaufgabe akzeptieren muss.

Zwar ist es Avataren – auch begnadeten Geistheilern und verwirklichten
Yogis – möglich, das »Naturgesetz eines bipolaren Gleichgewichts« im
Einzelfall zum Guten zu verändern; auf einer umfassenderen Ebene
scheint es aber komplementär zu einem Ausgleich der bipolaren Balance
zu kommen; eine durchgreifende »Weltverbesserung« scheint nicht
möglich zu sein.

158 Beide Zitate: Ramesh S. Balsekar, The Cosmic Law (DVD).

Konnte Krishna auf dem mythischen Schlachtfeld des Kurukshetra noch die
»guten« Pandavas gegen die »bösen« Kauravas siegen lassen, so haben wir
dieses bipolare Bild in seiner eigentlichen Bedeutung als Symbol für das
Schlachtfeld des Lebens in uns selbst anzusehen, auf dem sich jeder
Einzelne der doppelwertigen Natur seines Wesens zu stellen hat.

Auch wenn wir Leiden wie Krankheit, Alter und Tod als unvermeidbare
Erscheinungen des Lebens hinnehmen und annehmen müssen, bleibt die
Frage, ob und wie wir die an sich vermeidbaren Leiden, die als Folge
negativer Geisteshaltungen auftreten, einschränken und vermindern
könnten.

Auf der konventionellen Ebene unserer Lebenserfahrungen ist
Leiderleichterung zum einen Ausdruck einer sozial verantwortlichen
Lebensführung, die zu Frieden und Harmonie im täglichen Leben führt
und dadurch zur Verminderung des Leidpotentials beiträgt:
„Ein weiser Mensch weiß, dass sein Geist-Körper-Mechanismus, seine
Persönlichkeit, beide Seiten hat, gute und schlechte. Deshalb wird dieser Mann
demütig sein. Demut in mir selbst führt zu Toleranz gegenüber anderen.
Ich bin nicht perfekt, wie kann ich das von anderen erwarten? Also werde ich
mich selbst nicht für etwas beschuldigen und ich werde auch niemanden
anderen für etwas beschuldigen.“159

Zum anderen ist es die Offenheit, das Leben im Einklang mit dem Fluss
des Lebens fließen zu lassen, und die Bereitschaft, das Leiden in den sich
manifestierenden Formen zu akzeptieren.

Nisargadatta Maharaj schlug sogar vor, das Leiden bewusst zu
akzeptieren, aus dem einfachen Grund, weil es uns erlaubt, die Muster
unserer bisherigen Leidvermeidung zu durchschauen und uns – tiefer als
jedes weltliche Vergnügen es vermag – der Quelle allen wahren Glücks
näher zu bringen:
„Wenn Leiden als das, was es wirklich ist, als Lektion und Warnung akzeptiert
wird, bricht die Unterscheidung zwischen Leid und Vergnügen zusammen,

159 Ramesh S. Balsekar, The Cosmic Law (DVD).

beide werden zu Erfahrung, leidhaft, wenn sie abgelehnt wird, freudvoll, wenn
sie angenommen wird.“160

Dennoch müssen wir uns der Alltagserfahrung stellen, dass die Welt in
ihrer phänomenalen Wahrnehmung wirkungsvoll leidhaft ist: Wir leiden,
sind sterblich und müssen mit dem Leiden und Sterben fertig werden;
selbst ein Weiser versteht, dass er, wenngleich er sich nicht (mehr) mit
diesem Körper identifiziert, er dennoch sein Leben mit und in diesem
Körper leben muss!

Kann es somit überhaupt eine grundsätzliche und nachhaltige, also
letztendliche Beseitigung des Leidens geben? Und wer beendet dieses
Leiden? Gibt es da von der Seite des »Pseudo-Subjektes Mensch«
überhaupt etwas zu tun?
„Alles Leiden wird enden, sobald Sie das Falsche als falsch, das Vergängliche
als vergänglich erkennen und im reinen Gewahrsein verweilen. Ich bin meiner
wahren Identität als Zeitlosigkeit, Grenzenlosigkeit und Subjektivität gewahr“,
sagte der schwer erkrankte Nisargadatta Maharaj, „daher leide ich nicht
und kann auch gar nicht leiden. Ich bin mir dessen gewahr, dass es das
Bewusstsein ist, das offensichtlich durch den sensorischen Apparat eine
Erfahrung erleidet. Sie Ihrerseits glauben, selbst dieser sensorische Apparat zu
sein, und es ist diese fälschlich angenommene Identität, die Ihr Leiden und Ihr
Gebundensein verursacht.“161

So scheint vorgezeichnet zu sein, dass eine Erlösung vom Leiden
»lebensbegleitend« nur möglich ist,

– wenn sie aufgrund göttlicher Gnade in der »Lebensdramaturgie« eines
Menschen vorgesehen ist,

– wenn wir – dank solcher Gnade – die polare Verbundenheit von
Glücks- und Leidenserfahrungen erkennen und annehmen

160 Nisargadatta Maharaj, in: Ego, Effort, Surrender, S. 56: „You will find in pain a joy which pleasure cannot yield, for the simple reason that acceptance of pain takes you much deeper than pleasure does. The personal self by its very nature is constantly pursuing pleasure and avoiding pain. The ending of this pattern is the ending of the (personal) self. The ending of the self with its desires and fears enables you to return to
your real nature, the source of all happiness and peace. When pain is accepted for what it is, a lesson and a warning, and deeply looked into and heeded, the separation between pain and pleasure breaks down, both become experience – painful when resisted, joyful when accepted.“
161 Ramesh S. Balsekar, Pointers, Wegweisende Gespräche mit Sri Nisargadatta Maharaj, S. 182 und 188.

– und wenn es gelingt, unsere bisherige Unterscheidung von Glück und
Leid aufzugeben und beide Erfahrungspole in ein integrales Erleben
von Glück und Leid zu transzendieren:

„Letztendliche Erleichterung vom Leiden“, erklärt Sai Baba in seinem
Tagesspruch vom 18. Januar 2005, „kann nur durch die Auslöschung dessen
kommen, das auf eine Sache als Schmerz und auf eine andere als Freude
reagiert, und dessen Erinnerung und Konditionierung das Erkennen der
Dualität von Freude und Sorge unterstützen.“162

Dualität ist das Medium, durch das die Manifestation stattfindet,
Dualismus hingegen ist die Verfälschung der Dualität:
„Dualität ist die Basis des Lebens. Das Leben basiert auf miteinander
verbundenen Gegensätzen“, so Ramesh Balsekar. „Der Weise lebt in der
Dualität; der normale Mensch lebt im Dualismus. Dualismus bedeutet zu
wählen; die Dualität zu akzeptieren, bedeutet Verwirklichung.“163
„Das Entstehen des Leidens durch die Identifikation (mit dem Leiden) und das
Ende des Leidens durch die Disidentifikation sind beide ein Teil des Ablaufs der
Totalität. Somit kann die Illusion der Identifikation und deren Beseitigung
durch das Verstehen, durch das Erfassen, nicht in den Händen irgendeines
Individuums liegen, das selbst eine Illusion ist, das absolut keinen eigenen,
freien Willen hat.“164

Doch noch ein „Happy End“
Wir erleben das Leiden in seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Wir
verstehen, dass Glück, selbst das flüchtige Glück, nur in der
unverbrüchlichen Dualität von Glück und Leid zu haben ist. Wir erleben
immer wieder die Vergänglichkeit glücklicher Momente.

Und dennoch: Warum haben alle Lebewesen dieses unbeirrbare Streben
nach Glück? Warum sind wir in Glücksmomenten reiner Liebe bereit, alle
egozentrischen, fordernden Motive weltlicher Liebe zu vergessen, um uns

162 Sathya Sai Baba, Tagesspruch vom 18. Januar 2005: „Ultimate relief from pain can come only by the effacement of that which reacts to one thing as pain and to another as pleasure, and whose memory and conditioning sustain the recognition of the dualities of joy and grief.“
163 Ramesh S. Balsekar, Und so geschah es, S. 72, 145.
164 Ramesh S. Balsekar, Erleuchtende Briefe, S. 42.

– wie Krishna und Radha in ekstatischer Vereinigung von Reinem
Bewusstsein und Ursprünglicher Energie – in göttlicher Glückseligkeit zu
verlieren?165

Weil Glückseligkeit unsere Natur ist!

Wenn wir das Einssein mit der Göttlichen Kraft und ihrer Natur
erkennen, die die Veden „sat – cit – ānanda“, d.h. „Sein, bewusstes Sein und
Glückseligkeit“, nennen, erleben wir die Natur des Göttlichen als unsere
Natur. „Prema svarūpalāra“, „Ihr, die ihr eurer Natur nach Liebe seid“ nennt
uns Sai Baba in seinen Ansprachen und weist auf diese göttliche Qualität
in uns hin.

Weltliche Liebe macht blind, Göttliche Liebe strahlt!

Weshalb macht Liebe blind? Weil sie uns in unserer Einengung auf
egozentrische Konzepte für die reine Erfahrung von Liebe blind macht,
blind macht für das Erkennen von ānandamayakosha, der subtilsten
Hülle des Bewusstseins. Diese Hülle der Glückseligkeit ermöglicht uns,
die Erfahrung des Bewussten Seins, die das Bewusstwerden Brahmans
selbst ist, hervorzurufen.166

Durch sie strahlt das Leuchten des Selbst bis in manomayakosha, die
Schaltzentrale unseres Denkens, und lässt uns in Augenblicken reiner
Liebe alle Blindheit der weltlichen Gefühle vergessen:
„Wir sind dazu da, wahre Menschen zu werden – über unser Ich hinaus zu
gehen und zu erkennen, dass unser wahres Wesen das Wesen Gottes ist.
Gib dich hinein in diesen Prozess des Lebens, und vertraue darauf, dass es der
Prozess Gottes ist.“167

165 Vgl. Ramesh S. Balsekar, Peace and Harmony, S. 63f: „The heart-melting Krishna is actually Pure Consciousness. His captivating consort, Radha, is the primordial power of Pure Consciousness that projects complex worlds of name and farm. What is the meaning of their ecstatic union depicted by the traditional icon of Radha and Krishna dancing side by side, merged into a single current of Divine Delight? The interpretation is simply this. Pure Consciousness and its own Primordial Power are one Reality and not two. You cannot realize the Absolute without participating in the dance of the relative. You cannot understand the play of relativity without being immersed in the radiant stillness of the Absolute.“
166 Sathya Sai Baba, Quellen der Weisheit, S. 58.
167 Willigis Jäger, Die Welle ist das Meer, S. 100.

Auch wenn wir das Göttliche in seiner letztlichen Natur nicht umfassend
verstehen können, ist »Liebe« das einzige Wort, mit dem wir Gott
angemessen beschreiben können.
„Nichts kennzeichnet ihn besser“168.

Brahman ist ohne Eigenschaften und jenseits unserer Vorstellungskraft;
aber ānandamayakosha, die Hülle der Glückseligkeit, ist in uns und ist
ein Teil von uns, dem Göttlichen am nächsten und gleichwohl für uns
erfahrbar!

Erkenntnis und soziale Verantwortung
„Dieses Leben ist uns gegeben, dass wir uns wandeln. Wer sich wandeln will,
muss lernen loszulassen; nur so wird er transformationsfähig.“169

Erfahrungen und Erkenntnisse, die uns auf unserem spirituellen Weg
zuteil werden, können uns helfen, die letztendliche Natur des Leidens
besser zu verstehen, und uns hoffen lassen, in den letztendlichen Wurzeln
göttlichen Glücks Halt zu finden.

»Verstehen«, »Transformation« und »Loslassen«, rechtfertigen aber nicht
den Ausstieg aus dieser Welt und sie dürfen uns nicht blind machen für
das allumfassende und unerträgliche Leiden in dieser Welt.
„Wer wirklich durchbricht zur letzten Erfahrung, bleibt nicht in einem
Wolkenkuckucksheim hängen, auch nicht in einer Ekstase. Ein spiritueller Weg,
der nicht in den Alltag und zum Mitmenschen führt, ist ein Irrweg“, ermahnt
Willigis Jäger. „Wenn einer den Weg nach innen beschreitet, wird ihm sehr
rasch der Vorwurf gemacht, er denke nur an sich, es mangle ihm an sozialer
Verantwortung. Das kann sein, aber dann ist der Betreffende sicher nicht auf
dem rechten Weg. Die mystische Erfahrung durchbricht die Schranke des Ich
und der Selbstgenügsamkeit. Die Erfahrung des gemeinsamen Lebens, das alles
durchpulst, lässt Leid und Freude des anderen als eigenes Leid und eigene
Freude erfahren. Der Egoismus, das Hauptlaster der Menschen, ist
überwunden.“170

168 Sathya Sai Baba, Ansprache Gurupurnima, 2. Juli 2004.
169 Willigis Jäger, Wiederkehr der Mystik, S. 48.
170 Willigis Jäger, Wiederkehr der Mystik, S. 48ff.

Es wäre inhuman, ja zynisch, unter dem Mantel einzigartiger spiritueller
Erkenntnisse unseren Anteil an sozialer Verantwortung zu vergessen,
nämlich dort zu helfen, wo es unsere Lebensaufgabe, unser Dharma,
vorsieht und ermöglicht. Diese Verantwortung hintanzustellen, wäre ein
falsches Verständnis einer angeblichen »Erkenntnis« und eine grausame
Arroganz gegenüber jenen Mitmenschen, die – noch – in Māyā und den
Verzerrungen ihrer Erscheinungen verstrickt sind.

Auf diese Verantwortung verweist Sai Baba?s unermüdlicher Appell
„Help ever, hurt never“

Kapitel 4
Der ?weglose? Weg: Sādhana, Ego, Befreiung
Wir beginnen eine Reise,
weil wir glauben, ?irgendwo? anzukommen.
Und unterwegs erfahren wir,
dass ?Reisen? unsere wahre Natur ist,
dass unsere Abreise und die Vorstellung anzukommen,
ein Traum war – sinnvoll nur für den Beginn der Reise.

Bereits in der „Edlen Wahrheit von dem Weg zur Aufhebung des Leidens“ wird
»Rechte Anstrengung« als Weg zur nachhaltigen Befreiung vom Leiden
angesprochen. Der leidende Mensch soll und muss sich anstrengen, um
seine jetzigen leidvollen Lebensumstände zu überwinden:
„Weil wir im Samsāra nicht über diese Leiden, die uns solche Qualen wie eine
äußerst schmerzhaft brennende Wundblase bereiten, hinausgelangen, müssen
wir unter allen Umständen den Zustand der Befreiung erlangen, in dem all die
allgemeinen wie besonderen Leiden des Daseinskreislaufs überwunden sind.
Weil wir die Befreiung aber nicht ohne die entsprechenden Ursachen und
Umstände erlangen, müssen wir in einwandfreier Weise die Drei Schulungen
der Höheren Ethik, der Höheren Meditativen Versenkung und der Höheren
Weisheit ausüben, welche die Methoden zur Erlangung des Nirvāna
darstellen.“171

171 Dalai Lama, Gesang der inneren Erfahrung, S. 173f; die Höheren Schulungen gehören zum Übungsweg eines „Wesens mit mittlerer Motivation“, das nicht nur eine günstige Wiedergeburt, sondern ? durchdrungen von wahrer Entsagung ? die vollständige Befreiung von Samsara anstrebt.

Die Betonung des spirituellen Übungsweges
Im Buddhismus sind spirituelle Übungen fester Bestandteil des
Alltagslebens. In Form von Zeremonien und Rezitationen werden
spirituelle Ziele angestrebt – vom allgegenwärtigen Rezitieren des
Mantras „Om mani padme hum“ über spezielle Übungen der Meditation
und des sich Zurückziehens als Mittel zur geistigen Sammlung bis hin
zum altruistischen Übungsweg der Bodhisattvas.

Bodhisattvas als »Wesen mit höchster Motivation« suchen in der Entwicklung
von bodhicitta nicht die Befreiung für sich selbst, sondern das Mittel,
anderen uneigennützig zu helfen. Sie üben auf dem Pfad und den Stufen
zur Erleuchtung172 die Sechs Paramitas.173

Sie erlangen mit dem Erreichen des dritten Pfades die Fähigkeit des
direkten Sehens der letztlichen Wirklichkeit und beseitigen auf dem
dritten und vierten Pfad zunächst alle Verblendungen des Geistes und ?
erst in einer späteren Phase der vierten Stufe – die „Imprints“, die
karmischen Eindrücke dieser Verblendungen. Durch „Methode und
Weisheit“ als Ursachen für den letztlichen Formkörper eines Buddha,
rupakaya, und den Weisheitskörper, dharmakaya, erreichen sie den Zustand
der „großen Vereinigung“,
– Yugananda, die Vereinigung von Körper, Rede und Geist,
– die Vereinigung von Meditation und Handlung: die gleichzeitige
Wahrnehmung der konventionellen und letztlichen Wahrheit,
– und die nicht-duale Vereinigung der Kontinua aller voll erleuchteten
Wesen.174

172 Fünf Stufen des Weges und zehn Bhumis:
1. Pfad der Ansammlung,
2. Pfad der Vorbereitung,
3. Pfad des Sehens mit der direkten Wahrnehmung der letztlichen Wirklichkeit,
– auf dem 1. ? 8. Bhumi die stufenweise Beseitigung aller Verblendungen,
4. Pfad der Meditation,
– auf dem 9.-10. Bhumi die Beseitigung karmischer Eindrücke,
5. Pfad des Nicht-mehr-Lernens (Arhatschaft, Erleuchtung).
173 Sechs Paramitas: Geben, Ethik, Geduld, Enthusiasmus, Konzentration und Weisheit.
174 Gonsar Rinpoche, Skripten Lam Rim, Band 3, Seite 103f: „Wenn wir den Zustand der vollen Erleuchtung erreicht haben, dann existiert diese Trennung, diese Dualität verschiedener geistiger Kontinua, nicht mehr. Das bedeutet, dass das Kontinuum des Geistes des Wesens mit dem Geist im Dharmakaya, dem allwissenden Zustand des Geistes, vereinigt ist und vollständig mit ihm verschmolzen ist.“

In den vedischen Traditionen bilden vielfältige Opferzeremonien, das
Rezitieren der Göttlichen Namen und das Singen von Bhajans, geistlicher
Lieder zum Ruhme der göttlichen Formen, den äußeren Rahmen, um auf
dem Erlösungsweg spirituellen Zielen näher zu kommen. Diese
Bemühungen konzentrieren sich auf drei Erlösungswege:

– Karma Yoga, den Weg des selbstlosen Dienens,
– Bhakti Yoga, den Weg der Vereinigung mit dem Göttlichen,
– Jnāna Yoga, den Weg der Selbsterkenntnis.

Alle drei Wege werden als zielführend, jedoch in der Intensität ihrer
Erfahrungen als zeitlich und inhaltlich unterschiedlich beschrieben.
Erfahren, Erleben und Erkennen können – je nach Übungsschwerpunkt –
den Weg des Yogi und den der Yogini begleiten:

Der Karma Yogi erfährt über die Praxis des uneigennützigen Handelns
allmählich die Relativität des Ichs; sein Weg geht mit zunehmendem
Verständnis in den Weg der Selbsterkenntnis über.

Der Bhakti Yogi erlebt in der Verwirklichung seines Wunsches, mit dem
Göttlichen zu verschmelzen, den Prozess des Einswerdens, verliert sich
als Person in der Annäherung an das Göttliche.

Der Jnāna Yogi erkennt in der intellektuell angelegten strikten Analyse
seiner Seinsvorstellungen und in der Distanzierung zum »Schein der
Welt« das Wahre Sein des Einen. Mit den sich in natürlicher Weise
daraus ergebenden Erfahrungen des Einsseins mit allen Erscheinungen
der Göttlichen Quelle schafft er die Verbindung von der
kopfgesteuerten Ebene der Selbsterforschung zum Weg eines Bhakti
Yogi.

Denn Bhakti Yoga und Jnāna Yoga werden im Verlauf der Praxis als ein
Weg erfahren:
„Es gibt keine zwei Wege – es sind die gleichen Wege. Es beginnt mit bhakti,
‚Dein Wille geschehe‘, und es endet mit jnāna. Jnāna geschieht, wenn die
Illusion als Illusion erkannt wird.“175

175 Ramesh S. Balsekar, Und so geschah es.., S. 135.

Sādhanas »finden statt«
Es hat den Anschein, als ob sich in der Betonung des Entschlusses, einen
dieser Übungswege beginnen zu wollen, eine konditionale Verkettung
andeutet: Müssen wir, wenn wir aus dem samsarischen Kreislauf der
leidvollen Existenzen befreit werden »wollen«, spirituelle Wege gehen,
intensiv Sādhanas üben und »unser« Ego überwinden?

Auf einer anfänglichen Übungsebene sind vermeintlich willentliche
Anstrengungen vonnöten, um den Geist zu beruhigen, ihn von den
Täuschungen der Scheinwelt wegzubringen und ihn für seine wahre
Natur empfänglich zu machen.
„Es muss eine Kraft geben, die einen dazu treibt, sādhanas zu praktizieren. In
dem Moment, wo man die sādhanas ausführt, sind sie genau das Richtige für
einen. Wenn das sādhana nicht mehr nötig ist, dann geschieht etwas, und das
sādhana hört einfach auf. In dem Moment, wo das sādhana aufhört, wenn die
Gnade es erlaubt, dann lässt man es los.“176

Die vermeintliche Absicht des Individuums, spirituelle Übungen
selbstmächtig starten zu wollen, darf nicht mit der Vorbereitung zur
Beruhigung des Geistes an sich verwechselt werden: Sādhanas finden
statt.177 Sie sind zum Ingangsetzen des Übungsweges notwendig, bleiben
aber auf eine Phase der spirituellen Vorbereitung begrenzt:
„Rituale sind von Bedeutung, solange ihr euch als Körper fühlt, aham dehāsmi – ich bin der Körper. Wenn ihr wisst, dass ihr das Absolute, brahman, seid,
verlieren Rituale ihren Wert.“178

Das hat seinen verständlichen Grund darin, dass bei Fortsetzung der
sādhanas diese zunehmend auf geistige Befriedigung und Stärkung des
Mind ausgerichtet sein können und zum Selbstzweck werden:
„Es ist geradezu paradox, dass sich der Mensch mit den unterschiedlichsten
Formen von spirituellen Übungen befasst, um seine eigene Wirklichkeit zu

176 Ramesh S. Balsekar, Und so geschah es.., S. 107.
177 Nicht als Konditionalsatz zu verstehen: Wenn Sādhanas ausgeübt werden, dann findet spiritueller Fortschritt statt, sondern final: Damit spiritueller Fortschritt geschehen kann, werden vorbereitende Sādhanas in Gang gesetzt. 178 Sathya Sai Baba, in: Sathya Sai Baba spricht, Band 6, S. 130.

erfahren, nämlich das, was er bereits ist. Alle Übungen mit dem Ziel der Suche
nach dem Selbst sind Handlungen, die der Mensch im Zustand der
Unwissenheit, ajnāna, ausführt.
Seid euch dessen bewusst, dass Erfolg und Misserfolg nicht von euren
Bemühungen, eurem sādhana oder ähnlichen Aktivitäten abhängen. Ihr bläht nur
euer Ego auf, wenn ihr der Täuschung erliegt, aus eigener Kraft Dinge erreicht
zu haben.“179

Zum Erreichen des eigentlichen Ziels, der Befreiung aus der Bindung
falscher Konzepte in die Freiheit der Wahrheit, sind alle sādhanas
vergeblich, meinte Ramesh Balsekar:
„Wirkliche Loslösung entsteht nicht durch Askese, Wallfahrten oder
absichtlich gute Taten, sondern allein durch ein direktes, intuitives Erfassen der
eigenen wahren Natur.“180

Gleichermaßen erstaunlich sind auch die Worte von Sai Baba, in dessen
Ashram Rituale nichts desto trotz einen zentralen Platz haben:
„Äußerliche Formen der Gottesverehrung, wie das Singen von Bhajans, das
Rezitieren der Namen Gottes, Opferrituale und andere fromme Übungen,
dienen nicht der spirituellen Selbstbesinnung. Es sind an sich gute
Handlungen, haben aber nichts mit Spiritualität zu tun. Spiritualität ist die
Verbindung des Atman mit dem Atman. Alle Handlungen haben die ihnen
gemäßen Konsequenzen. Gute Taten haben gute Folgen. Aber sie tragen nicht
zu spirituellem Forstschritt bei.“181

Die Vorstellung, dass das »Ich« aus »eigenem« Antrieb sādhanas ausübt,
um in einer bestimmten zeitlichen Perspektive »sein« Ego auszulöschen
und um damit eine Loslösung von den Verblendungen des Geistes zu
erreichen, widerspricht der Abhängigkeit eines solchen Prozesses von
Göttlicher Gnade.

Woher kommt das Ego?
Das Ego, synonym verwendet für »das Individuum«, »die Person«, wurde
vom göttlichen Willen als Teil einer göttlichen Hypnose geschaffen.

179 Sathya Sai Baba, Erkenne dich selbst, in: Sommersegen, Band 7, S. 86f.
180 Ramesh S. Balsekar, Die Eine Wahrheit, S. 210.
181 Sathya Sai Baba, Sathya Sai Baba spricht, Band 30, S. 131.

„Gott hat das Ego erschaffen, und es ist Gott, der den allmählichen Prozess der
Zerstörung des Egos in einigen Fällen in Gang bringt“, sagte Ramesh
Balsekar.182

Und es ist das Spiel von Māyā, das den Abstieg des Bewusstseins von
seiner Universalität zum Ego und dann zur Person zeigt:
„»Ich bin«, das Gefühl von Sein, begrenzt sich selbst auf eine bestimmte Form,
akzeptiert deshalb ihre eigene »Geburt« und lebt danach im ständigen,
überschattenden Schrecken des eigenen »Todes«. So wird die Vorstellung einer
individuellen Persönlichkeit, einer Identität, eines Ego geboren.“183

Was ist das Ego?
Das Ego »loswerden« zu wollen, ohne es zu kennen, ist so naiv, wie den
Dieb fangen zu wollen, ohne zu wissen, wie er aussieht. Das eigentliche
Problem des Egos ist nämlich nicht seine Anwesenheit als funktionales
Instrument,
„sondern die Identifikation mit einem Namen und einer Form als ein
getrennter, individueller Handelnder, als ein individueller Handelnder,
getrennt von anderen individuellen Handelnden. Dieses Getrenntsein als ein
Handelnder ist das wirkliche Problem.“184
„Dieses identifizierte individuelle Wesen betrachtet sich selbst als der
Ausführende seiner Handlungen, und das ist der Teufelskreis, das ?spirituelle
Krebsgeschwür?!“185

Die »Böswilligkeit« des Ego liegt demnach nicht in seinem Vorhandensein
an sich, vielmehr in seinem Verständnis als eigenmächtig handelnder
Einheit, die »willentlich« Ziele – wie das der Befreiung – von sich aus zu
erreichen sucht. Das Ego ist lediglich ein Konzept, das auf die zugrunde
liegenden Aggregate der Person, die fünf Skandhas, übertragen wird. Seine
Aufgabe besteht darin,
„das Selbst, das reines Bewusstsein ist, mit dem Körper, der leblos und
unbewusst ist, zu verknüpfen“186 und zu gegebener Zeit ?zurückzutreten,

182 Ramesh S. Balsekar, Wen kümmert’s, S 28.
183 Ramesh S. Balsekar, Pointers, S. 88.
184 Ramesh S. Balsekar, Wen kümmert’s, S. 127.
185 Ramesh S. Balsekar, The Cosmic Law (DVD).
186 Ramana Maharshi, a.a.O., S. 66.

um der Ersten Wirklichkeit im Leben Platz zu schaffen – um Gott zur Welt
kommen zu lassen.“187

Die Abschaffung des Egos?
„Werden Sie ‚aham vritti‘, den Ich-Gedanken, los“, ermahnte zwar Ramana
Maharshi. „Solange das »Ich« da ist, gibt es Kummer. Wenn es aufhört, ist
auch der Kummer verschwunden.“188

Die Vorstellung aber, das Ego als solches, also insgesamt loszuwerden, es
gar »töten« zu wollen, um Befreiung zu erlangen, hat nicht nur erhebliche
Verwirrung unter spirituell Suchenden ausgelöst, sie ist schlichtweg
falsch:
„Da ist kein Du, das Freiheit vom Ego sucht, weil du das Ego bist: Das Ego
sucht die Freiheit nicht von sich selbst.“189

Das »Ich«, das sich in seinem tiefsten Innern nie ganz mit dem Körper-
Geist-Gebilde identifiziert hat, kann durchaus erkennen, dass die
Entwicklung von der ursprünglichen Energie »Ich-Bin« zum »Ich-
Konzept« eine täuschende Entwicklung ist. Und dass Vollkommenheit
ohne Begrenzung seine wahre Natur ist. Sein Problem besteht allerdings
darin, nicht tief genug zu verstehen, dass in dieser Vollkommenheit, die es
sucht, bestimmte Vorstellungen des »Ichs« verschwinden müssen: Der
spirituelle Sucher sucht Freiheit von einer nahezu »angeborenen«
Vorstellung eines persönlich Handelnden:
„Der Ego-Sucher sucht Freiheit vom Leiden, bekommt die Freiheit aber nur
dann, wenn er völlig akzeptieren kann, dass das Leiden nur durch sein eigenes
Verständnis persönlichen Handelns entsteht. Er sucht Freiheit von dem Teil
seiner Existenz, der denkt, dass er der ‚Täter‘ ist. Das Denken des Menschen, er
sei ein ‚Täter‘, kann abgelegt werden, und er wird trotzdem sein Leben als ein
von anderen getrenntes Individuum weiterleben“, präzisierte Ramesh
Balsekar.190

187 Willigis Jäger, Die Welle ist das Meer., S.58.
188 Ramana Maharshi, a.a.O., S. 64.
189 Ramesh S. Balsekar, The Cosmic Law (DVD).
190 Ebd.

Auch wenn und nachdem dieses individuelle Wesen seine Vorstellung
von einer »Selbsttäterschaft« abgelegt hat, bleibt die Identifikation als
separates Wesen erhalten:
„Du kannst deine Identität nicht aufgeben, also muss die Identifikation als ein
eignes Wesen bestehen bleiben, bis zu der höchsten aller Stufen, bis zum letzten
Atemzug.“191

Wenn demnach von der Überwindung des Egos gesprochen wird, kann
nicht der sowieso unmögliche »Selbstmord« des Egos gemeint sein –
„wenn du kein Ego mehr hättest, würde es dich nicht mehr geben“192 ,sondern
nur die notwendige Veränderung des Egos, die mit dem Aufgeben des
falschen Selbstverständnisses beginnen muss, verbunden mit einem
Verstehen, dass es in seiner bisher angenommenen Bestehensweise als
handelnder Einheit zurücktreten muss und dennoch und weiterhin als
Funktionselement der Person benötigt wird:
„Wenn das Bewusstsein des Zeugen vorhanden ist, wird das Ego nicht stören.
Es hat keinen Einfluss.“193

Wer setzt diesen Prozess der Veränderung des Egos in Gang? Wie könnte
der »Träumer im Traum« den Entschluss fassen, den Traum zu beenden?
„Der mind stellt sich vor, dass er etwas tun muss“, sagte Ratan Lal. „Er
macht sich nicht klar, dass er, um beständig glücklich zu sein, nur in der Stille
bleiben müsste. Er muss in sich zurücksinken, weil seine Dienste nicht benötigt
werden. Glück ist unsere wahre Natur.“194

Erleuchtung ist ein »Happening«.
Erleuchtung – als Erfahrung – ist der umgekehrte Prozess vom Dualismus
zur Dualität, und zur göttlichen Einheit. Sie ist das Ende des Gefühls
persönlicher Täterschaft und das Geschehen einer tiefstmöglichen
Erkenntnis, dass das menschliche Wesen keine getrennte Einheit, sondern
nur ein Instrument ist, durch das Gott oder die Totalität arbeitet.

191 Ebd.
192 Ramesh S. Balsekar, The Cosmic Law (DVD).
193 Sathya Sai Baba, in: Sathya Sai Briefe, Ausgabe 96, S. 56.
194 Ratan Lal, Oneness of Divinity, S. 124: „The mind, being active, imagines that it has to do something. It does not realize that in order to be permanently happy, it has to be still. It has to subside, because its services are not necessary. Happiness is one?s true nature.“

„Das ist alles, und das bedeutet lediglich eine Transformation vom Gefühl,
selbst der Handelnde zu sein, zur Abwesenheit des Gefühls der Täterschaft.“195

Das alte Konzept »Wollen, Handeln und Erreichen« ist nicht mehr
gefragt; »Erleben, Verstehen und Annehmen« sind angesagt!
„Das illusorische Ego, das keine wirkliche Existenz besitzt, kann nicht
irgendetwas «tun«, um irgendetwas zu «erreichen». Bedeutet dies dann, dass
der Mensch als ein Individuum gar keinen aktiven Anteil an diesem Geschehen
(am Aufleuchten des Verstehens) hat, sei es denn als ein Mechanismus?
Genauso ist es.“

Erleuchtung kann nur stattfinden, „wenn Zeit, Ort und der
psychosomatische Mechanismus darauf abgestimmt sind, es zu empfangen. Das
Ereignis ist Teil des großen göttlichen Plans. Jedes Ereignis geschieht
unerbittlich zum genau angemessenen Zeitpunkt. Der Organismus wird ein
Instrument des universalen Bewusstseins. Die notwendigen Bedingungen für
eine plötzliche Erleuchtung entstehen durch mehrere Leben. Aber die Reihe der
Lebensspannen, die für das letztendliche Ereignis der Selbst-Realisierung
notwendig sind, geschehen keiner individuellen »Wesenheit«, aus dem
einfachen Grunde, weil es, zu jeder Zeit, nichts anderes als Bewusstsein ist.“196

Das ist gemeint, wenn Ramesh Balsekar von der mühelosen Bemühung
spricht, dem passiven Bezeugen auf dem pfadlosen Pfad, dem reinen
Verstehen ohne ein »Ich« als Verstehendem, der zum Verstehen des
ziellosen Ziels führt, zu dem, was immer vorhanden war und hier und jetzt
vorhanden ist:
„Was das Verstehen ganz einfach erzeugt, ist die Erkenntnis, dass das Ego oder
der Verstand nur ein Arbeitspartner innerhalb der physischen Organisation –
genannt Körper – ist und nicht sein unabhängiger Besitzer, wovon man bislang
fest überzeugt gewesen war!“197
„Es gibt keine größere Macht auf Erden als dieses Bewusstsein, dieses Gefühl
von Anwesenheit – »Ich bin« – an welches das illusorische Individuum all seine
Gebete richten muss“, sagte Nisargadatta Maharaj. „Dann wird dieses
Bewusstsein dem illusionären Individuum die illusionäre Befreiung aus dem

195 Ramesh S. Balsekar, Wen kümmert’s?!, S. 46.
196 Ramesh S. Balsekar, Die Eine Wahrheit, S. 209f.
197 Ramesh S. Balsekar, Erleuchtende Briefe, S 25f.

illusionären Gebundensein schenken, indem es seine wahre Natur enthüllt –
und die ist nichts anderes als der Suchende selbst, jedoch nicht als
Individuum!“198

Durch dieses »Geschenk« wird das Ego aus der Umklammerung seiner
bisherigen falschen Konzepte vom Ego befreit und erfährt die Freiheit des
Verstehens seiner wahren Natur:
Die individuelle Erfahrung einer Befreiung zu Lebzeiten, jīvanmukti,
vollzieht die Aufhebung der Unwissenheit und ermöglicht das
Unterscheiden zwischen richtigen und falschen Vorstellungen vom Sein
und Sinn des Lebens.

Moksha, vollständige Befreiung, und das scheinbare Aufgehen der
»Individualität« in der universellen göttlichen Realität, setzt die
Aufhebung aller dualen Vorstellungen und Erfahrungen polarer
Gegensätze voraus – notwendigerweise auch die Aufhebung der dualen
Vorstellung von einer erfahrenden Person und ihren Erfahrungsobjekten,
einschließlich der Vorstellung von einer »eigenen Person« – und somit
auch die Aufhebung der Person als individuellem
Erfahrungsinstrument in der Dualität.
„Wenn es keinen Handelnden gibt, dann gibt es kein Ego mehr. Wenn es kein
Ego mehr gibt, dann strahlt das »Ich Bin« aus einem Körper-Verstand-
Organismus, der frei ist von jeglicher persönlicher Identifikation. Stirbt der
Körper-Verstand-Organismus, dann besteht das »Ich Bin« weiterhin als das
»Ich Bin«. Wenn schließlich die Gesamtheit der Manifestation endet, dann wird
das »Ich Bin« zum ICH-ICH, zum Bewusstsein-in-Ruhe. Und all dies ist ein
Konzept“, vermittelte uns Ramesh Balsekar.199

Erwachen aus dem Traum der Täuschungen: Wie schön, wie einfach
könnte das sein! Nur, der geträumte Träumer muss eine tief verwurzelte
Ahnung von seinem bevorstehenden Verschwinden als Person haben,
hält eben darum am Konzept eines scheinbar individuellen und
eigenmächtigen Seins fast unverrückbar fest und behindert nachhaltig
den an sich beglückenden Prozess einer Befreiung aus der Täuschung.

Auf dem Weg zum Einen

198 Ramesh S. Balsekar, Pointers, Wegweisende Gespräche mit Sri Nisargadatta Maharaj, S 231.
199 Ramesh S. Balsekar, Wen kümmert?s, S 35.

Auf die Frage, was nach diesen Erkenntnissen zu tun bleibt, antwortete
Nisargadatta Maharaj:
„Nichts, keine Bemühungen. Wer ist da, um sich zu bemühen? Welche
Bemühungen kann ein illusionäres, konzeptuelles »Ich« denn leisten, um seine
wahre Natur zu erfahren? Die eigene wahre Natur zu erkennen, erfordert kein
Bemühen in der Phänomenalität. Erleuchtung kann weder erreicht noch
erzwungen werden. Sie kann nur geschehen, wenn ihr die Möglichkeit dazu
gegeben wird und sie nicht mehr durch Konzepte verhindert wird.
Was dann bleibt, ist nicht irgendeine spirituelle »Praxis« als zielgerichtetes
Bemühen, sondern man lässt das eigene Sein vom wahren Verstehen zutiefst
durchdringen – passiv und geduldig, so dass alle Täuschungen und Hindernisse
sich allmählich von selbst lösen.“200

Wie kann man aber – in geduldiger Erwartung der Erleuchtung und ohne
das Gefühl der Täterschaft – weiterhin den ganz normalen Alltag mit
seinen täglichen Aktivitäten bewältigen?
„Man wird genauso weiterleben wie bisher. Bislang hat man Entscheidungen
getroffen, und man wird auch weiterhin Entscheidungen treffen, denn das
Leben bedeutet, Entscheidungen zu treffen. Doch früher, wenn man
Entscheidungen getroffen hatte – und man erwartete, dass diese
Entscheidungen dem eigenen Willen entsprachen – und sich diese
Entscheidungen dann als falsch herausstellten, war man völlig frustriert. Mit
dem Verständnis dieser Lehre, die hier geschieht, wird man auch weiterhin
Entscheidungen treffen und diese Entscheidungen in die Praxis umsetzen.
Treffen Sie Entscheidungen so, als ob Sie einen freien Willen haben. Erwägen
Sie alle Konsequenzen und Alternativen – und fällen Sie dann eine
Entscheidung. Doch tief innen wissen Sie, dass diese Entscheidung sich nicht
von Gottes Willen unterscheidet, denn ansonsten hätte es diese Entscheidung
nicht gegeben. Eine Entscheidung wird nicht geschehen, wenn es nicht Gottes
Wille ist, eine Entscheidung wird sich nicht in eine Handlung umsetzen, wenn
es nicht Gottes Wille ist, und eine Entscheidung wird genau die Konsequenzen
haben, die Gottes Willen entsprechen.“201

200 Ramesh S. Balsekar, Pointers, Wegweisende Gespräche mit Sri Nisargadatta Maharaj, S. 96 und S. 247f.
201 Ramesh S. Balsekar, Wen kümmert’s, S. 164 und S. 176.

Auf meine Frage, „Ich habe intellektuell verstanden, doch was kann ich tun,
damit diese intellektuelle Akzeptanz zu einer totalen Akzeptanz wird“, meinte
Ramesh Balsekar:

„Niemand ist der Täter. ‚Klaus‘ kann nichts tun, um die intellektuelle
Akzeptanz zu einer totalen Akzeptanz zu machen. Das kann nur passieren! Es
ist Klaus‘ Bestimmung, Gottes Wille, kosmisches Gesetz. Das ist die
aufrichtige, unwiderlegbare Antwort.
Du weißt nun, dass dieses ultimative Happening nur geschehen kann, und
deine Frage nimmt eine andere Form an: ‚Bis es denn passiert, ist da nicht doch
etwas, was ich derweil tun könnte?‘
Meine Antwort ist: Setz dich am Ende eines Tages ruhig aber bequem hin,
nimm dir zwanzig, dreißig Minuten Zeit und beginne mit der Erforschung;
Erforschung deiner eigenen Erfahrungen, nicht der Erfahrungen anderer. Finde
unter den vielen Ereignissen des Tages eine einzige, von der du absolut sicher
bist, dass es deine Handlung war.
Frage dich: ‚Wenn dieses Geschehen meine Handlung war, habe ich
entschieden, diese Handlung zu dieser Zeit zu machen? Wie kam es zu dieser
Handlung?‘ Da war ein gedanklicher Impuls, und genau dieser führte zu der
Handlung. Hätte es diesen Gedanken nicht gegeben, hätte auch die Handlung
nicht stattgefunden. Du hattest keine Kontrolle über das Erscheinen dieses
Gedankens. Du kannst so viele Handlungen untersuchen, wie du willst, du
wirst ausnahmslos zu dem Schluss kommen: wenn du nicht zu einer
bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gewesen wärst und etwas gesehen
oder gehört hättest, wäre die Handlung nicht geschehen. Wie kannst du dann
diese Handlung deine Handlung nennen?
Wenn du mit dieser Erforschung weitermachst und sich dein intellektuelles
Verständnis von Mal zu Mal vertieft, wird wahrscheinlich irgendwann –
abhängig von deiner Bestimmung, Gottes Wille, vom kosmischen Gesetz ? ein
»Blitz« vollständiger Akzeptanz geschehen, und du wirst akzeptieren, dass du
schlichtweg nicht der Handelnde sein kannst. Du wirst dann so viele Konzepte
untersucht haben, dass es kein Konzept mehr sein kann, dass es für dich absolut
wahr geworden ist. Und wenn diese Stufe erreicht wird, kannst du von totaler
Akzeptanz sprechen.“202 –

202 Interview mit Ramesh S. Balsekar vom 3. Oktober 2003.

Kapitel 5
Quintessenz
„Gott spricht zu denen, die sich die Zeit nehmen zuzuhören.“
Sathya Sai Baba

Der Versuch, Erkenntnis zu beschreiben
Meine Reise auf dem „Weg zum inneren Frieden“ begann in der mehr oder
weniger christlich geprägten europäischen Heimat, führte mich in
einsame Höhen der tibetisch-buddhistischen Philosophie, wo die Luft des
Verstehens „dünn“ wurde, später zu den Tiefen der weisen „Mutter
Ganga“, wo das angesammelte und angestaute Wissen begann, sich zum
Verstehen der wahren Zusammenhänge zu verdichten.

Von den Grundlagen des Buddhismus über die inhaltlichen Vertiefungen
des Advaita bis hin zur Quintessenz aller bisherigen Antworten auf meine
Fragen zieht sich ein roter Faden:

Die Welt ist nicht so, wie sie mir erscheint.

Ich bin nicht so, wie ich mich gern sähe.

Ich bin nicht nur anders als gedacht, ich bin nicht einmal das autonome Wesen,
als das ich mich als Handelnder so gern sähe.

Dass ich dennoch »gut funktioniere«, liegt daran, dass ich als Widerspiegelung
der göttlichen Quelle von dieser göttlichen Kraft inspiriert werde.

Das Göttliche Eine hat dieses »mein« Leben als Widerspiegelung seines
Wahren Seins in Gang gesetzt, lebt es nach Seiner göttlichen Vorsehung und
beendet es mit der Erfüllung dieser Lebensaufgabe.

Es wird demnach nicht mein Spiel gespielt, sondern Sein Spiel, Līlā, das
Göttliche Spiel. Und dieses Spiel findet nicht »irgendwo« getrennt von Gott
statt, sondern als universeller Traum in seinem alles durchdringenden
Bewusstsein.

Meine Vorstellung eines getrennten und eigenmächtigen Ichs hat dabei wenig
Bedeutung, es sei denn die, diese meine Lebensaufgabe nach Seinem Plan
geschehen zu lassen: „Dein Wille Geschehe!“

Dieses Einssein in Gott erklärt die unverbrüchliche Einheit mit Gott; und
es begründet plausibel die Allgegenwart, Allmächtigkeit und
Allwissenheit des Göttlichen, weil göttliches Bewusstsein in Aktion diese
Eigenschaften in unbegrenzter Fülle verkörpert:
„Ihr seid alle Verkörperungen des Göttlichen. Gott hat all diese verschiedenen
Formen angenommen. Ihr und Gott seid eins. Ihr seid nicht verschieden von
Gott. Gott ist in euch. Ihr beide seid eins.“203

Meine Einheit mit und in Gott ist die Einheit aller Wesen mit und in Gott.

Das Verstehen dieser Einheit gibt dem Imperativ „Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst!“ innere Glaubwürdigkeit und macht
Nächstenliebe auch für »Kopfmenschen« nachvollziehbar, ohne dabei die
unterschiedlichen Lebensaufgaben und Lebenssituationen der
Mitmenschen aus dem Auge zu verlieren.

Zwar ist der Weg der Selbsterfahrung und Transformation der
Persönlichkeit, der Weg zum Einssein, auch ein Weg in die Einsamkeit, oft
sogar in die Frustration und die Verzweiflung; dennoch, in der Erfahrung
des Einen erleben wir aufs Neue das Einssein und die Gemeinsamkeit mit
allen – nicht mehr von Person zu Person, sondern von Bewusstsein zu
Bewusstsein.

Der Traum von dem Einen
Vor einiger Zeit hatte ich einen intensiven und nachdrücklichen Traum:
Ich befand mich in einer mit strahlendem Licht angefüllten Glaskuppel. Durch
die Türen dieses Raumes konnte ich ungehindert nach außen sehen; in
umgekehrter Richtung war das offensichtlich nicht möglich. Vor jeder Tür sah
ich die Würdenträger der verschiedenen Religionen, die damit beschäftigt
waren, kostbar geschmückte Altare herzurichten. Die Anhänger jeder Religion
saßen – jede Gruppe für sich – voller Andacht vor ihrer Tür; keiner kam auf die
Idee, seine Altartür aufzustoßen und in das Innere dieser herrlichen Halle
einzutreten.

203 Sathya Sai Baba, Ansprache vom 25. Oktober 2004.

Warum scheint es so schwer zu sein, zu erkennen und zu akzeptieren,
dass wir in den verschiedenen Religionen nicht von »Gleichem« oder
»Ähnlichem« sprechen müssten, sondern von »demselben«?

Ich kenne einige, die von ihren christlichen Wurzeln den Weg zu den
Lehren des Buddhismus gefunden haben. Ich kenne einige, die mit großer
Ernsthaftigkeit über Jahre hinweg die Schulen der buddhistischen
Philosophie studiert haben. Ich kenne einige, auch in meinem engeren
Freundeskreis, die zu Sathya Sai Baba gefunden haben.

Aber wie viele schaffen es, die letztlich eine Weisheit, die von Johannes
vom Kreuz »Nada«, von Dionysios »Erste Wirklichkeit«, von Meister
Eckhart »Gottheit«, im Zen »Leerheit« und »Non-Dualität«, in Indien
»Advaita« genannt wird, zutiefst aufzunehmen und in natürlicher Weise
als Einheit zu leben? Manche meinen das gleiche, zögern aber, das gleiche
als das Verbindende anzuerkennen; nur wenige sind vorbereitet, das
»gleiche« als »dasselbe« anzunehmen.

Ein »unerhörter« Gedankengang
„I have separated Myself from Myself in order to experience Myself.“
Warum hat sich das Göttliche Eine in die Vielfalt der Dualität von »mir«
und »anderen« und in die Polarität von »gut« und »böse« ausgedehnt, die
aufgrund der unverbrüchlichen Einheit ihrer Gegensätze Leid und
Sterblichkeit nach sich zieht?

Ich stelle mir vor, für einen kurzen Augenblick in eine geträumte Welt
jenseits von »gut« und »böse« einzudringen. Was würde ich dort finden?

Der Antrieb, diese Welt für »mich« günstiger zu gestalten, entfiele.

Der Antrieb, »meiner« Sterblichkeit zu entgehen und eine vermeintliche
Unsterblichkeit zu erreichen, entfiele.

Die besitzergreifende Liebe als Mittel, »meine Art« überlebensfähiger zu
machen, entfiele.

Der »Durst nach Leben« ginge zu Ende.

Das Verlangen nach Erkenntnis ginge zu Ende.

Die Energie, irgendetwas zu erreichen, würde zur Ruhe kommen.

Liebe, Weisheit, Güte wären nichts mehr, was es zu erreichen gäbe; wir wären
nur noch Liebe, Weisheit und Güte.

Der Traum dieser Welt wäre zu Ende. Gott ist.

Die Grenzen der Erkenntnis
Ramesh Balsekar schilderte die Briefkontakte zwischen einem Meister und
seinem Schüler, der ihm immer wieder über die Fortschritte seines spirituellen
Verständnisses berichten will; jeweils ohne den Meister zu überzeugen. Erst
nachdem ein volles Jahr ohne einen einzigen Brief des Schülers vergangen war,
und der Meister den Schüler an seine Pflicht erinnerte, antwortete dieser:
„Wen kümmert’s?“
Als der Meister diese Worte las, erschien ein Ausdruck großer Zufriedenheit
auf seinem Gesicht.204

Selbst eine bis an die Schmerzgrenze gehende, intellektuell akzeptierte
Aufgabe getäuschter »Ich-«Konzepte kann die direkte Erfahrung der Ich-
Losigkeit nicht ersetzen!

Mir ist deshalb durchaus bewusst, dass ich mich in den Bemühungen, das
letztlich Wahre zu verstehen, an der Grenze des zulässigen und
sinnvollen Verstehenwollens bewege. Nicht ohne Grund warnten Ramesh
Balsekar und sein Lehrer Nisargadatta Maharaj:
„Jedes Wissen ist konzeptuell und deshalb unwirklich. Der Intellekt ist zwar
wichtig und notwendig, um gewisse Grundlagen zu verstehen, aber es gibt eine
strenge Grenze, bis zu welcher er gehen kann. Darüber hinaus muss er all sein
Bemühen aufgeben und totale Hingabe zulassen, damit die Intuition die
Führung übernehmen kann.“205

Die höchste Stufe der Erkenntnisfähigkeit und die letzten Antworten auf
unsere Fragen nach dem Wahren Sein können nicht in Konzepten und
Philosophien gefunden werden, auch wenn diese noch so ausgeklügelt
sein mögen.

204 Ramesh S. Balsekar, Wen kümmert?s, S. 17.
205 Ramesh S. Balsekar, Pointers, S. 95 und S.239.

Die nichtkonzeptuelle direkte Erfahrung des Seins kann nicht auf die
dualistische Natur konventioneller Wahrnehmung und Sprache reduziert
werden. Deshalb muss das Gespräch über Gott zurücktreten und Raum
schaffen für das Gespräch mit Gott.

„Lass das Leben los!“
Wie könnte eine solche nichtkonzeptuelle, direkte Erfahrung des Seins
erfahrbar werden und sich mit ihr ein befreiender innerer Frieden
einstellen?

Noch fällt es mir schwer, auf diese für mich so wichtige Frage eine gültige
Antwort zu finden.

Wenn ein buddhistischer Meister seinem Schüler, der ihn wieder und
wieder bedrängt, ihn wissen zu lassen, wie er die Praxis seiner spirituellen
Vervollkommnung »wirkungsvoller« gestalten könne, schlussendlich den
Rat gibt, „lass das Leben los!“, mag er an das vom Buddha gelehrte
»bedingte Entstehen« gedacht haben, so, wie er es im »Rad des Lebens«206 als
Ursache für den »Durst nach Leben« und das »Hängen an Wiedergeburt«
beschrieben hat. Bezogen auf diese Lebensspanne wird der Meister ganz
konkret gemeint haben, die Endlichkeit dieser Lebenserfahrung
kompromisslos zu akzeptieren und – auch wenn es aufgrund lang
währender Prägungen schwierig sein wird – alle Bindungen an diese
individuelle Erfahrungsform loszulassen.

Einem solchen Gedanken folgend, könnte selbst das »Hängen« an
subtilen, als heilig empfundenen Ausdrucksformen spiritueller Übungen
und der Versuch, diese festzuhalten und wiederholen zu wollen, für den
Suchenden – von einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung an – zu einem
Hindernis werden und ihn vom Erleben eines nachhaltigen inneren
Friedens fernhalten.

Könnte sich die Evolution psychisch/spiritueller Erfahrungen, ausgehend
von der personalen Ebene des Bewusstseins, so eindrucksvoll und
umfassend entwickeln, dass das Ego beziehungsweise die Person als
individuelles Erfahrungsobjekt des göttlichen Bewusstseins unzureichend

206 Vgl. Dalai Lama, Die Lehre des Buddha vom Abhängigen Entstehen, S. 18ff, und Halcour, Das Lebensrad der Tibeter, S. 57.

wird und zurücktritt, und sich eine »umfassendere Form von Person«
entwickeln müsste, die diese neue Erfahrungsdimension überlagert und
sie erfassen kann?

Nach bisheriger Erfahrung verstehe ich meine »Sehnsucht nach Wahrheit«
als den zunächst individuellen Wunsch nach einer Befreiung, die aus dem
traumgleichen Erleben dieser Welt mit ihren Begrenzungen und
Täuschungen hinausführt und in einer mir bisher unbekannten Weise
vollkommenes Sein vollzieht.

Wann und wie aber »geschieht« diese allumfassende Wandlung?

Im Laufe dieses jetzigen Lebens, am Ende dieses Lebens oder in künftigen
subtilen Formen »wiedergeborener« Bewusstseinsqualitäten?

In einem Schritt oder in einem stufenweisen, dieses Leben
überschreitenden Prozess, der sich von der derzeitigen personalen
Erfahrungsebene – mit ihrem getäuschten Ich-Bewusstsein und ihrer
begrifflichen Welterschließung – über eine transpersonale Ebene der
Einheitserfahrung zu einer kosmischen Dimension des Absoluten
entwickelt, auf der Körper und Geist verschwinden und in spirituelle
Energie transzendiert werden, bevor Bewusstsein in einer schlussendlichen
Entwicklungsstufe in der unbegrenzten Fülle des Kosmischen
Seins zur Ruhe kommt? 207

207 Vgl. John Hislop, Mein Baba und ich, S. 220ff; ähnlich auch Willigis Jäger mit Bezug auf Ken Wilber, in:
Wiederkehr der Mystik, S. 25f.

© Klaus Kück Heidelberg 2010