Advaita, das Eine ohne ein Zweites

अद्वैत   Advaita, das Eine ohne ein Zweites

 Wer „Advaita“ sagt, bekommt schnell zu hören: „Das ist mir viel zu kopflastig, ist schwer verständlich und daher viel zu anstrengend, viel zu provokant und auch gefährlich“. Eben alles „viel zu ..“. Da scheint der spirituelle Übungsweg des Karmayoga, des selbstlosen Dienens, ungefährlicher und Bhaktiyoga, der Weg der Hingabe an das Göttliche, herzlicher zu sein.

 Aber neben diesen und nicht anstelle dieser beiden gültigen und im Grunde auch gleichwertig zielführenden Übungswegen gibt es Jnanayoga, den Weg der Selbsterkenntnis, die Suche nach der Wahrheit hinter den täuschenden Schleiern der sinnlichen Wahrnehmung. Sie kann zu einer atemberaubenden Reise in die „Welt hinter der Welt“ werden, wenn man sich auf Ihre Aussagen einlässt oder, besser gesagt, einlassen kann.

 Was ist Advaita?

 Advaita, das umgreifende Wahrnehmen des Göttlichen als des Einen-ohne-ein-Zweites“[1], ist von seinem Ursprung her Teil der Veden, und ist in den Upanishaden bis in unsere Zeit überliefert worden. Die Veden sind älteste indogermanische Schriften, ihr historisches Entstehen ist schwer zu datieren. Jedenfalls sind sie älter als die Kultur der Arier, die die Veden um etwa 1500 v. Chr. nach Indien brachten. Später wurden die Upanishaden von Shankara (788-820 n. Chr.), dem bedeutendsten klassischen Advaita-Lehrer Indiens, aufgegriffen und kommentiert. In unserer Zeit finden sie in den Darlegungen des Neo-Advaita und in ganz erstaunlicher Eindringlichkeit in den tiefgründigen Ansprachen und Texten Sai Babas ihre zeitgemäße Formulierung.

 Von seinen Inhalten her ist Advaita ein spiritueller Weg, der mit Dvaita, der dualen Sicht der Welt, beginnt, sich über Vishishtadvaita, einem bedingten Akzeptieren von Advaita, bis zum völligen Verständnis von „ā-dvaita“, „nicht-zwei“, entwickelt.

 Advaita eröffnet eine völlig neue Sicht auf „Gott und die Welt“. Und auf das von uns allen gelebte und geliebte „Ich“, das den Schöpfer und seine Schöpfung erkennen und sein eigenes wahres Wesen verstehen möchte.

 Advaita ist eine spirituelle Sichtweise, die quer denkt und da ansetzt, wo es anfängt weh zu tun, sich von lieb gewonnenen, aber täuschenden Vorstellungen zu trennen. Insofern sind seine Kernaussagen gewöhnungsbedürftig, überraschen aber mit völlig neuen Sichtweisen und beglückenden Erkenntnissen!

 Das Leben ein Traum?

 „Alle äußeren Formen und Namen sind wie flüchtige Träume.“[2]

 Wohl wissend wie leicht wir uns in unseren Sinneseindrücken täuschen lassen, halten wir dennoch und nur allzu gern an unseren vermeintlich wahren Alltagserfahrungen fest. „Ich hab?s doch mit eigenen Augen gesehen“, sagen wir, wenn wir etwas als unzweifelhaft richtig festhalten wollen. Und lassen uns in unserer angeblich so sicheren Wahrnehmung gleich in zweifacher Hinsicht täuschen:

 Zum einen messen wir den Objekten eine in dieser Form nicht vorhandene Existenzweise zu. Wir nehmen an, dass sie inhärent, aus sich heraus, mit eigener Substanz bestehen. Die Zweifel an der substantiellen Existenz der Dinge verdichten sich, je tiefer wir dem abhängigen Entstehen und Bestehen der Dinge nachgehen. Wir erkennen ihre „Leerheit von Eigenexistenz“, indem wir die Abhängigkeit ihres Bestehens von den sie konstituierenden Teilen und den sie hervorbringenden Ursachen erforschen, insbesondere aber die Abhängigkeit von dem sie wahrnehmenden Bewusstsein verstehen.

 Zum anderen lassen wir uns in unserer Wahrnehmung täuschen. Wir vernachlässigen, dass die Qualität des Sehens nicht im Auge, sondern im Sehbewusstsein stattfindet: Auf dem Weg der Sinneswahrnehmung nimmt der Geist die Gegenstände seiner Wahrnehmung nicht direkt, sondern nur mit Hilfe eines geistigen Bildes, eines Generic Image“, auf. Sobald der wahrnehmende Geist mit einer bestimmten geistig/energetischen Schwingung des Wahrzunehmenden in Verbindung kommt, wird aus einer anfänglich ungetäuschten Primärerkenntnis“ im Bruchteil einer Sekunde eine Sekundärerkenntnis“, eine getäuschte Vorstellung. Das Erinnerungsvermögen verknüpft diese unmittelbare und richtige Wahrnehmung mit Konzepten und Wertungen, die aus vorangegangenen Prozessen gleicher Art im Bewusstsein gespeichert wurden, verfälscht das Objekt seiner Wahrnehmung und sorgt durch erneute Speicherung für eine Verstetigung der Täuschungen.

 Wie schwer es ist, diese täuschenden Zusammenhänge zu durchschauen, verdeutlicht Sai Baba:

 „Es ist in der Tat nicht leicht, sich vorzustellen, dass diese erschaffene Welt eine Mischung aus Wirklichkeit und Täuschung ist Wenn jemand mit dem Kopf gegen eine Wand rennt, dann ist es schwierig für ihn zu glauben, dass diese Wand halb unwirklich ist, dass ihr Name und ihre Form Erfindungen einer irregeführten Einbildung sind und dass sie in Wirklichkeit das Göttlich-Absolute (Brahman) ist. „[3]

 Unsere Wahrnehmung der Welt ist  nicht gänzlich falsch. Es gilt, den feinen Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wirksamkeit auszuloten, zu unterscheiden zwischen dem, was  getäuscht und somit falsch ist, und dem, was dennoch in unserer konventionellen Wahrnehmung wirksam ist.

 Und unser geschätztes Ich?

 „Das Individuum existiert nur in deiner Vorstellung, in deinem Verstand. Es ist nur eine Illusion. Es ist nicht real. Wenn das eine Selbst überall ist, wenn es Eins ist ohne ein Zweites, wo ist dann ein Individuum?“[4]

 Soll es uns mit unserer Selbstwahrnehmung, mit uns als dem Betrachter der Welt ähnlich ergehen? Soll auch das Ich nur geträumt sein? Gibt es das eigenmächtige Ich, mit dem wir uns und die Welt bisher erfahren haben, so gar nicht?

 Natürlich können wir von uns sagen: „Ich bin“. Diese Tatsache ist spätestens seit Descartes[5] unbestritten. Es wäre ja auch absurd zu behaupten, dass das denkende Ich als Wahrnehmer der Phänomene dieser Welt, gar nicht existiere.

 Aber existiert es in der von uns angenommenen Selbstmacht und Willensfreiheit?

 Das konventionell wahrgenommene Ich, nennen wir es das „kleine Ich“, ist ein Konstrukt auf der Grundlage von Körper und Geist. Als funktionales Instrument dient es der kontinuierlichen und sinnvollen Bewältigung unserer Lebensaufgaben.

 Nur die von uns aus dieser Funktion abgeleitete subtile Kontinuität der Geistesqualitäten missverstehen wir als eine Kontinuität der Person und leiten aus diesem getäuschten Selbstverständnis eine Selbstmächtigkeit der Person ab. Diese überzogene quasi „überdrehte“ Ich-Vorstellung muss auf das richtige Maß zurückgedreht werden.

 Solange in euch das Empfinden von ‚ich‘ und ‚mein‘ lebt, wird euch ahamkāra, die irrtümliche Identifikation mit dem Körper, nicht verlassen. Solange euch ahamkāra nicht verlässt, kann auch die Unwissenheit, ajnāna, nicht weichen.“[6]

 Wir müssen lernen zu verstehen, dass das Ich in seiner bisher angenommenen Bestehensweise als handelnder Einheit zwar zurücktreten muss, dennoch und weiterhin aber als Funktionselement benötigt wird. Es gilt für uns, die wir nach Verständnis und Wahrheit suchen, die notwendige Transformation des „kleinen Ich zum „großen Ichzuzulassen und seine Integration in den umfassenderen Zusammenhang der uns bewegenden inneren Kraft, in das wahre Selbst in seiner tiefsten, göttlichen Essenz anzunehmen.

 „Wir sind dazu da, wahre Menschen zu werden – über unser Ich hinaus zu gehen und zu erkennen, dass unser wahres Wesen das Wesen Gottes ist. Gib dich hinein in diesen Prozess des Lebens, und vertraue darauf, dass es der Prozess Gottes ist.“[7]

 Der angeblich freie Wille

 Nichts ist freier Wille, alles ist Mein Wille. „

 Eine weitere Herausforderung, die die Vorstellung von uns und unserem selbstbestimmten Handeln untergräbt und unsere Handlungsfreiheit auf die einer Marionette reduziert?

 „Jedes menschliche Wesen ist tatsächlich ein Instrument Gottes. Als solches sollte er seine Pflicht tun und die Ergebnisse Gott überlassen. Die Menschen müssen ihre Pflichten erfüllen; Erfolg oder Misserfolg wird durch das Göttliche bestimmt. Betrachtet euch nicht als die Handelnden. Entwickelt die Überzeugung, dass das innewohnende Bewusstsein euch leitet und befähigt zu handeln.“[8]

 Dennoch, so eindeutig wie diese göttliche Ansage auch sein mag, bei anderer Gelegenheit sagt Sai Baba auch:

 Der Mensch hat einen freien Willen. Jedem ist vollkommene Freiheit gegeben, das zu genießen, was man wünscht.“ Er schränkt aber nachfolgend unverzüglich ein: „Jeder Handlung entspricht eine Reaktion. Diese Regel vorausgesetzt, könnt ihr tun, was ihr möchtet. Alles was geschieht, ist die Konsequenz der eigenen Gedanken und Handlungen.“[9]

 In unseren Betrachtungen zum sogenannten freien Willenhaben wir nämlich zu berücksichtigen, dass das unverbrüchliche Naturgesetz von Ursache und Wirkung ? „wenn wir dieses säen, werden wir jenes ernten“ – keineswegs der Konzeption entgegensteht, dass alles, was geschieht, auf göttlichem Willen basiert und in uns – in Übereinstimmung mit diesem Kosmischen Plan passiert.

 „Freier Wille“ und „Vorsehung“ sind beide richtige Konzepte. In dem Sinne nämlich, dass das konventionell denkende Individuum gar nicht anders kann, als in Begriffen von einem freien Willen zu denken und zu handeln.

 Die Göttliche Regie spielt halt mit dem einen das Spiel Ich will, was ich will“ und mit dem anderen Ich weiß, dass ich nichts wollen kann“. Der Traumdarsteller Mensch kann zwar seine Rolle als scheinbar freier Mensch mit eigenen Entscheidungen gemäß den Regievorgaben perfekt spielen, in seiner Natur als Widerspiegelung des Göttlichen mangelt es ihm aber schlichtweg an Handlungsautonomie.

 „Was immer ihr tut, betrachtet es als Gottes Werk. Alles geschieht entsprechend dem Willen Gottes. Lebt nicht in der Illusion, euer Wille allein könne die Dinge bewegen. Begreift, dass alles gemäß dem göttlichen Willen geschieht.“[10]

 Das Gute und das Böse

 „Versteht die Wahrheit wohl, dass nämlich alles, sei es gut oder böse, gemäß dem göttlichen Willen geschieht.“[11]

 Hier kommen wir zu einem kritischen Punkt unseres Gottesverständnisses: Wie können wir akzeptieren, dass ein gütiger und gleichzeitig allmächtiger Gott auch für das Böse zuständig sein soll, das wir in vielfältiger Form alltäglich erleben – ja erleben müssen?

 Stimmt da vielleicht etwas nicht mit dem Blickwinkel, aus dem wir das Göttliche und seine Schöpfung betrachten? Gäbe es ein kosmisches Konzept, das uns –  wenn wir es nur verstehen könnten helfen könnte, den umfassenden göttlichen Willen und die für uns unverkraftbare Wahrnehmung des Bösen in der Welt auf einen Nenner zu bringen?

 Aus Gründen, die uns verborgen sind, könnte Gott ja beschlossen haben, sich selbst in der Dualität in allen denkbaren Ausprägungen erleben zu wollen, und sich in einem physisch/psychischen Wahrnehmer zu verdichten, um sich in ihm und durch ihn die dem Göttlichen in seinem absoluten Potential nicht erfahrbare Erscheinungsbreite auszudrücken.

 Das Eine beschloss, viele zu werden?[12], offenbart uns Sai Baba, Gott schuf den Kosmos, indem er selbst zum Kosmos wurde. Der Kosmos ist der Traum Gottes, er entsteht in ihm und geht in ihn ein.“[13]

 Was wir also als Natur, als die Dinge, erblicken, ist in Wahrheit Gott selber, aber Gott, wie er sich als ein Fremdes anschaut. Die im menschlichen Geiste anwesende Gottheit erkennt sich selber.

 Und: Nun ‚muss‘ Gott einsehen, dass er als der Anschauende und als der Angeschaute ein und derselbe ist. Die Selbsterkenntnis Gottes ist der innerste Sinn alles dessen, was sich auf der Ebene des menschlichen Geistes vollzieht. [14]

 Nur so ließe sich die Existenz des Bösen in der konventionellen Wahrnehmung der Welt für uns verkraftbar vorstellen:

 Zum einen als karmische Folge unserer Handlungen, in der unverbrüchlichen Einheit karmischer Handlungen und ihrer Wirkungen. Sie gelten in unserer Ausrichtung auf die Erscheinungswelt ausnahmslos und somit für alle: Das ist das Gesetz der Natur.“ Handlungen, gute wie böse, hinterlassen heilsame oder unheilsame Wirkpotentiale, die als geistige Tendenzen in den subtilsten Schichten des Bewusstseins gespeichert werden und die beim Zusammentreffen mit den ihnen förderlichen Umständen früher oder später zu karmischen Wirkungen heranreifen.

 Zum anderen ist die Dualität und mit ihr die Bipolarität aller dualen Wahrnehmungen die unabdingbare Grundlage unserer Bewusstseinserfahrungen:

 Alle Manifestationen und dieses Geschehen, das wir Leben nennen, basieren auf Dualität. Das Unmanifestierte, der Ursprung allen Lebens, offenbart sich in der Vielfältigkeit der Manifestationen, und die Basis dafür ist Dualität.“[15]

 Das Leben ist Bewusstsein und Energie in phänomenaler Aktion und somit unverbrüchlich und unvermeidbar Ausdruck polarer und miteinander verbundener Gegensatzpaare. Das Gute ruft notwendigerweise auch seinen Gegenpol, das Böse, auf den Plan. Das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben.

 Könnten wir, sofern es uns als Marionetten dieses göttlichen Schauspiels Leben überhaupt möglich sein sollte, anmaßen, das Böse in der Welt auszumerzen und die Ganzheit der göttlichen Schöpfung auf das zu reduzieren zu wollen, was wir uns in unserer begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit als Weltbild vorstellen und wünschen? Das Böse in uns auszuschließen hieße doch, den göttlichen Plan, unsere individuelle Lebensaufgabe verkürzen zu wollen auf ein Bild, das wir uns von uns machen, und die einzigartige Chance, uns in unserer umfassenden Lebensaufgabe zu vollenden, zu verpassen.

 Nur im richtigen Erkennen und Anerkennen der Dualität in ihrer gesamten Erscheinungsbreite könnte sich ein Fenster öffnen, das uns über die Enge unserer bisherigen getäuschten Sichtweisen hinausführt.

 Erst wenn es uns vergönnt ist, die in uns angelegte göttliche Täuschung einer „gut“ und „böse“ unterscheidenden Wahrnehmung aufzugeben und uns von der vermeintlichen Aufgabe einer aus uns und in uns zu bewältigenden „Welt- und Ich-Verbesserung“ zu befreien, könnten wir mit Augustinus sagen:

 Von jetzt an wünschte ich mir nicht mehr eine bessere Welt, denn ich bedachte sie jetzt in ihrer Gesamtheit, und mit einem gereiften Urteil erfasste ich, dass zwar die höheren Wesen (‚das Gute‘) besser sind als die niederen (‚das Böse‘), dass aber alle Wesen zusammen besser sind als die höheren allein.“ [16]

Dürfen wir so denken?

Dürfen wir die mit unserem unterscheidenden Denken konventionell und gesellschaftlich fest verbundenen Vorstellungen und Normen von Sünde, Schuld und Sühne einfach so aufgeben?  In unserer Teilhabe an der weltlichen Ordnung wohl kaum. Aber: Dürfen wir  uns  im  Zwiegespräch mit dem göttlichen und wahren ICH so, wie wir sind, mit allen unseren Fehlern, annehmen?

 „Ja“ sagt Sai Baba. Viele Menschen beten gewohnheitsgemäß: ‚Oh Herr, ich bin ein Sünder, meine Seele ist voller Sünde, ich habe so viel gesündigt.‘ Aber wer ist es denn, der gesündigt hat? Kann ein Mensch jemals getrennt vom Herrn existieren? Bekenntnisse wie die, dass ihr Sünder seid, sind nicht gut für euch. Ihr solltet lieber denken: ‚Ich bin Shiva, ich bin Gott, ich bin der Friede selbst, ich bin Liebe, ich bin Glückseligkeit, reine Seligkeit, die kein Ende hat.“[17] und er tröstet uns: Ich ziehe euch nicht zur Rechenschaft für etwas, das nicht in eurer Macht steht. Eure Unzulänglichkeit ist für mich kein Hindernis.“[18]

 Doch, obwohl das Böse letztlich nur dualer, getäuschter, also unwirklicher Teil Māyās, des göttlichen Lebenstraumes, ist, sind wir ihm bis zu einer direkten Erfahrung der Wahrheit ausgeliefert und haben es in seinen Folgen wirkungsvoll zu durchleiden.

 Die schreckliche Notwendigkeit, auch das Böse sei es sogar in den extremen Ausprägungen scheußlichster Verbrechen als göttliche Erscheinung anzunehmen, kann nur durch ein vorbehaltloses Verstehen erleichtert werden, dass wir selbst, die wir das Böse erfahren, Teil dieses zwar wirksamen aber nicht wirklichen, traumähnlichen Geschehens im göttlichen Bewusstsein sind, das wir als Ausdruck einer ganzheitlichen Lebensaufgabe akzeptieren müssen.

 Die Erkenntnis des Einen

 „Ihr seid alle Verkörperungen des Göttlichen. Gott hat all diese verschiedenen Formen angenommen. Ihr und Gott seid eins. Ihr seid nicht verschieden von Gott. Gott ist in euch. Ihr beide seid eins“, sagt Sai Baba.[19]

 Und im Neuen Testament spricht Jesus zu Gott: „Ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, dass sie eins seien, gleichwie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, auf dass sie vollkommen eins seien.“[20]

 In diesen beiden Aussagen weiten sich unsere problematischen und täuschenden Konzepte von „Gott und der Welt“ zum Einsseins mit und in Gott.

 „Wenn die Schöpferkraft (Māyā) uns in die Sāttvika-Stimmung dieses göttlichen Willens hineinzieht, werden wir zunehmend Sucher der höheren Weisheit (Jnāna), welche die Einheit offenbart.“[21]

 „Ich will, dass ihr meinen Willen in euch und durch euch manifestiert“, sagt Sai Baba.[22]

 Dieses ersehnte Einheitserlebnis ist Verheißung und Krönung allen spirituellen Bemühens. Es steht für „Sat – Cit – Ananda“ ebenso wie für das im Vaterunser gesprochene „Dein ist das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit“ und offenbart

  –  die absolute, ewige und unwandelbare Wahrheit des Seins,

  – die Kraft des Werdens und das Erkennen der nicht unterscheidenden, unerschöpflichen Fülle des Werdens,

  – und die vollkommene Glückseligkeit, die den Geist von seinen Täuschungen befreit  und ihn zum  Einssein mit dem Göttlichen zieht.

 Alles, was wir von der Welt und von uns bislang als getrennt und eigenmächtig missverstanden haben, wird zur Erkenntnis des allumfassenden göttlichen Bewusstseins und entwickelt sich zur letztlich einen und einzigen Lebensaufgabe des Menschen,  zum ganzherzigen Annehmen: „Dein Wille geschehe! „

  Gott hat dieses unser Leben als Widerspiegelung seines Wahren Seins in Gang gesetzt, lebt es nach Seiner göttlichen Vorsehung und beendet es mit der Erfüllung dieser Lebensaufgabe.

 Es wird demnach nicht unser Spiel gespielt, sondern Sein Spiel, Līlā, das Göttliche Spiel. Und dieses Spiel findet nicht irgendwo getrennt von Gott statt, sondern als universeller Traum in seinem alles durchdringenden Bewusstsein.

 Diese Erkenntnis ist die Herausforderung, der Sinn und das letztliche Ziel allen menschlichen Suchens.

 Sie ist die vornehme Aufgabe, die uns aus der Wirkungskraft des Māyā-Prinzips befreit, und uns das Ende aller Täuschungen erahnen lässt.

 Und wann wird Māyā enden?

 Sie wird enden, wenn die objektive Welt ignoriert, beiseite geschoben, verleugnet wird oder aber, wenn entdeckt wird, dass sie dem Göttlichen immanent ist. Dann ist das Individuum (Jiva) nicht mehr; wenn Jiva nicht mehr ist, wird Ishvara überflüssig und verschwindet. Und wenn Ishvara verblasst, ist allein Brahman.[23]

© Klaus Kück Heidelberg, veröffentlicht in: Sathya Sai Briefe, Ausgabe 121, Sommer 2012, S. 15ff.


[1] Sathya Sai Baba, in: Alvin Drucker , (Hrsg.), Bhagavad Gītā, S. 72.

[2] Sathya Sai Baba, Ansprache  vom 25. Oktober  2004.

[3]  Sathya Sai Baba, Sathya Sai Baba spricht, Band 1, Dietzenbach 1999, S.141.

[4]  Sathya Sai Baba in einem Interview mit einer Devotee, Puttaparthi 2010..

[5] René Descartes, „Ich denke, also bin ich“ aus: „Discours de la méthode„, IV, 3; vgl. auch die Analyse des Ich-Bewusstseins bei Augustinus: Si enim fallor sum, cogitans sum [Selbst] wenn ich mich täusche, existiere ichdenkend bin ich; aus: Vom Gottesstaat 11 26.

[6] Sathya Sai Baba, Sommersegen, Band 7, S. 86.

[7] Willigis Jäger, Die Welle ist das Meer, S. 100.

[8] Sathya Sai Baba, Thought for the Day vom 8. Februar 2006.

[9] Sathya Sai Baba, Thought for the Day vom 19. Januar 2005.

[10] Sathya Sai Baba, Ansprache vom 22. Juli 2008.

[11] Sathya Sai Baba, in: Sathya Sai Baba speaks, Band 33, Kapitel 2, S.  29, „Understand the truth that everything, be it good or bad, happens according to the Divine Will“.

[12] Sathya Sai Baba, Ansprache vom 25. Dezember 2007.

[13] Sathya Sai Baba, Ewige Wahrheiten, S.52 und 54.

[14] Hegel, zitiert nach: Wilhelm Weischedel, a.a.O., S. 218f.

[15] Ramesh S. Balsekar, Und so geschah es, dass..,  S. 72,  und: The Cosmic Law (DVD).

[16] Augustinus, Bekenntnisse,  S. 187.

[17] Sathya Sai Baba, Bhagavad Gītā, S. 72.

[18] Sathya Sai Baba in: Nava Sarathi, Ausgabe Januar 2005, S. 33: „I dot not judge you for what is never yours, really. Your imperfection is no obstacle for me.?

[19] Sathya Sai Baba, Ansprache vom 25. Oktober 2004.

[20] Neues Testament, Joh. 17,22-23.

[21] Sathya Sai Baba, in: Sathya Sai Baba spricht, Band 10, S. 180.

[22] Sathya Sai Baba, in: Sanathana Sarathi, August 1974, S. 185: My will is that you should manifest my will in you und through you.

[23] Sathya Sai Baba in: Sathya Sai Baba spricht, Band 10, S. 181.